Eric Rohmer während der Dreharbeiten zu Les amours d'Astrée et de Céladon
Der Text, der zum Bild werden will
Eric Rohmer als Literat
Von Sven Safarow
Im Vorwort zu der deutschen Ausgabe von »Meine Nacht bei Maud« (die die »Contes moraux« als Novellen enthält) sagt Eric Rohmer: »Warum eine Geschichte filmen, wenn man sie schreiben kann? Warum sie schreiben, wenn man sie filmen wird?«
Diese Frage umfaßt das Dilemma des Filmemachers wie des Drehbuchautors. Vor dem Film kommt der Text, das Gerüst des Bevorstehenden. Ein notwendiger, aber nur vorübergehender, flüchtiger Zustand. Der Filmtext ist dazu da, überwunden zu werden, in Bild, Rhythmus, Geschwindigkeit, Musik verarbeitet zu werden. Während der Arbeit am Text hofft man, diesen so schnell wie möglich zu exorzieren, ihn in Bilder zu transformieren. Doch was ist, wenn sich der Text als zu eigenständig erweist? Was ist, wenn der Text Text bleiben will?
»Sechs moralische Erzählungen«
Rohmer schrieb seinen Zyklus der »Sechs moralischen Erzählungen« in Novellenform. Es handelte sich also um literarische Erzeugnisse, und nicht um Drehbücher oder Exposés, Treatments oder Outlines. Sie sind in einer Zeit entstanden, als er noch nicht sicher war, ob er sein Leben dem Filmemachen widmen würde: »Wenn daraus Filme wurden, dann deshalb, weil es mir nicht gelang, sie zu schreiben. Und wenn es gleichwohl richtig ist, daß ich sie in ebender Form geschrieben habe, in der sie hier zu lesen sind, dann einzig und allein, um sie filmen zu können.«
So lesen sich die Erzählungen auch, als hätte Rohmer auf halbem Wege erkannt, daß Filme daraus werden mußten. In langen Dialogpassagen werden die Konflikte ersichtlich, die Rohmer herausarbeiten will. Auf Beschreibungen von Menschen und Umgebung verzichtet er. Fast wie Tagebucheintragungen lesen sich die Novellen, in denen die Ich-Erzähler ihre Handlungen knapp skizzieren und gleichzeitig ganz penibel ihre Gespräche protokollieren. Als hätte er geahnt, daß es müßig wäre, präzise Beschreibungen von etwas anzufertigen, das man später ohnehin auf der Leinwand sehen würde.
Auch eine Verwandtschaft zum Theater ist offensichtlich. Unschwer kann man sich »Meine Nacht bei Maud« als aufregendes Dialogdrama vorstellen, das auf der Bühne eine großartige Dynamik entfalten könnte. Spielerisch werden Themen behandelt wie Religion, Philosophie, Mathematik, Kommunismus, Bürgerlichkeit, und Liebe. Was anstrengend klingt, passiert bei Rohmer ganz spielerisch und natürlich. Er schafft es, einen lebendigen, organischen Gesprächsverlauf zu schaffen, der sowohl als Text als auch als Film funktioniert.
»Elisabeth«
Die Verwandtschaft der Novellen zu Theater und Film ist offensichtlich. Doch bevor Rohmer mit dem Film liebäugelte, hatte er klare, literarische Ambitionen. 1946 veröffentlichte er, der damals noch Maurice Scherer war, unter dem Pseudonym Gilbert Cordier seinen ersten und einzigen Roman »Elisabeth«. Bereits hier werden seine zukünftigen Themen offenbar: Die Figuren sind gefangen in einem Gestrüpp aus widersprüchlichen Emotionen und Aussagen. Sie belügen nicht nur andere, sondern auch sich selbst oder besser: Sie reden sich ihre favorisierten Versionen der Wahrheit zurecht. Selbstlüge und Selbstverleumdung bestimmen die Handlung.
Der folgende Dialog zwischen den beiden Liebenden Michel und Irene ist exemplarisch für die rohmersche Fehlkommunikation:
»Na ja«, sagte er. »Man weiß nie, was du wirklich willst, was duc Manchmal habe ich den Eindruck, du machst alles nur gegen deinen Willen.«
»Nein. Ich will das, wenn du es willst.«
»Und du, was willst du?«
»Ich? Nichts.«
»Willst du, daß ich gehe?«
«Nein. Stell mir doch nicht solche Fragen. Mach, was du willst, habe ich gesagt.«
»Also gut«, sagte er. »Ich werde jetzt gehen, weil ich heute Abendc Ich komme morgen früh um zehn vorbei – wenn du das willst. Ist das in Ordnung?«
»Ja. Wie du willst.«
Es ist nicht nur die Banalität des Inhalts, die hier besonders auffällt, sondern das völlige Unvermögen, die Zeichen und Hinweise des jeweils anderen richtig zu deuten. Man lebt nicht miteinander, sondern bestenfalls nebeneinander, und entweder trennt man sich am Ende, ohne zu wissen warum, oder man resigniert, und nimmt die Beziehung hin, wie sie ist. Letzteres passiert Michel, der mitten in der Beziehung erkennt, daß ihn seine Freundin eigentlich abstößt, aber sich damit arrangiert. Eine typische Reaktion der männlichen rohmerschen Protagonisten. Die fehlende Ehrlichkeit gegenüber sich selbst oder anderen führt unweigerlich in die Selbstlüge, die mit einer fadenscheinigen Moral gefestigt wird. Die Konfrontation wird vermieden, die Rechtfertigung zählt.
Die Trennung ist eine weitere, unmittelbare Folge vermiedener Konfrontation. In »Elisabeth« sind es Bernard und Huguette, die sich anzunähern scheinen, aber in sicherer Distanz verweilen, um sich unangreifbar zu geben. Sie sagt, sie will Freundschaft, verhält sich jedoch verführerisch. Er glaubt ihren Worten, und bereut es im Nachhinein. Und niemand kriegt, was er will. Das ständige Sich-verpassen ist die Essenz von Rohmers leisen Komödien.
Ein Merkmal von »Elisabeth«, das man in den sechs Novellen nicht mehr findet, ist die detaillierte Beschreibung. Rohmer genießt es, Gärten und Häuser zu beschreiben, den Lichteinfall, weibliche Konturen. Verträumte Schilderungen, die in den späteren Filmen als langsame, idyllische Bilder zurückkehren.
Es finden sich auch intime Szenen einer Beziehung, die in den Filmen schnell abgehandelt werden, in »Elisabeth« jedoch eine kurze, aber einprägsame Intensität verliehen bekommen:
»Er streichelte ihre Stirn und das blonde, volle Haar, das oberhalb der Schläfen toupiert war. Er hob den Arm, und seine Hand folgte den Konturen ihres Halses, den sie angespannt gegen den Beifahrersitz drückte. Die Hand strich die Rundung ihres vollen Kinns entlang, bis die Fingerspitzen ihre Lippen berührten. [c] Die Finger strichen über die Augen, tauchten dann zu den festen Brüsten hinab, in den Ausschnitt ihres weißen Kleides hinein, unter den wollenen Büstenhalter. Von dort strich die Hand flach und ohne jeden Druck über den Bauch, über ihre Schenkel, [c] und legte sich schließlich auf ihre Knie, die sie fest zusammengepresst hielt und deren Wärme er an seinen Beinen spürte.«
Rohmer beweist hier einen aufmerksamen Blick, der die Neugier seiner männlichen Helden für den weiblichen Körper zu seiner eigenen Neugier dem Menschen gegenüber macht. Sein Interesse für kommunikative Handlungen überwiegte letztendlich und führte ihn immer mehr von den detaillierten Beobachtungen weg.
Die männliche Moral
In den »Sechs moralischen Erzählungen« wird vor allen Dingen Rohmers Neugier für die männliche Arroganz deutlich. Durch fünf der Novellen führt uns ein homodiegetischer Erzähler, und damit ist schon einiges über Rohmers Absichten gesagt. Denn der Ich-Erzähler ist weder allwissend noch weiß er, was die Anderen denken und fühlen. Er hat nur seine eigene Sichtweise anzubieten, und die ist überdies extrem widersprüchlich. Er ist letztlich ein unzuverlässiger Erzähler, und genau das will uns Rohmer verstehen machen: Daß wir ihn und seine Ansichten, seine Aussagen und seine Gedanken anzweifeln sollen.
Exemplarisch ist dafür der erste Satz von »Meine Nacht bei Maud«:
»Ich werde nicht alles sagen in dieser Geschichte, die übrigens keine Geschichte ist, sondern eine Reihe, eine Auswahl sehr unbedeutender Ereignisse, Zufälle und Zusammentreffen, wie sie im Leben mehr oder minder häufig sind und die keinen anderen Sinn haben als den, den es mir gefiel, ihnen zu geben.«
Die Aussage eines Mannes, der sich in selbst kreierter Relativität verliert, um sich in allen Belangen abzusichern, um sich so unangreifbar wie möglich zu machen. Doch je mehr sich die rohmerschen Helden absichern, desto angreifbarer werden sie. So vollführt Rohmer eine genußvolle Dekonstruktion des männlichen Selbstverständnisses, was auch das eigentliche Thema der moralischen Erzählungen ist. Die Moral selbst wird lediglich von den Protagonisten herbeibemüht, die sich nicht eingestehen können, daß ihre Prinzipien von dem Anblick einer schönen Frau rasch hinweggefegt werden. Der Trieb schwebt über allem, wird jedoch niemals von den selbstüberzeugten Helden thematisiert.
Rohmer schrieb die Erzählungen Mitte der 1950er Jahre, als er bereits Kurzfilme inszenierte, unter anderem Tolstoi- und Poe-Verfilmungen. Das Kino begann den Lehrer und Literaten mehr und mehr einzunehmen, bis es schließlich die Oberhand gewann. Aus den moralischen Erzählungen wurden sechs Spielfilme. Wenn man Rohmers Zitat zu Beginn ernst nimmt, dann hat er die Novellen verfilmt, weil es ihm nicht gelang, sie zu schreiben, was konkret bedeuten könnte, daß sie seinen literarischen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Wenn man einen erneuten Blick auf die sechs Novellen wirft, stellt man jedoch fest, wie außergewöhnlich gut sie gealtert sind. Sie verlieren keine Zeit, und kommen ohne Umschweife zum Wesentlichen. Details werden der Imagination des Lesers überlassen, Handlung und Dialog bestimmen die narrative Ebene. Das ist nicht mehr die Stimme von Gilbert Cordier, der sich in »Elisabeth« ganz viel Zeit ließ, genau wie seine sich in den Sommerferien befindenden Protagonisten. Die »Sechs moralischen Erzählungen« sind sechs Variationen eines Themas, über Menschen im Alltag, geschrieben von einem Mann, der keine Zeit mehr zu verlieren hatte und sich zwischen zwei Kunstgattungen entscheiden mußte.
»Eine andere Art des Sehens«
Bereits als angehender Schriftsteller hat Rohmer begriffen, daß Worte nicht nur Fakten und Gefühle vermitteln, sondern auch ein bestimmtes Bild des Sprechers, das dieser, frei nach Kleist, während dem Sprechen selbst modelliert. Doch dieses Bild entspricht nur in Teilen dem wahren Selbst. Dies offenzulegen und auf die Spitze zu treiben bereitet Rohmer ein diebisches Vergnügen. Genau wie die Bilder des Regisseurs Rohmer die wahren Intentionen und Gefühle der Protagonisten bewahren, bewahren es auch die Worte des Literaten Rohmer. So entsteht, durch die spannungsreiche Verbindung von Wort und Bild, Handlung und Aussage eine bestimmte Bedeutungsmontage, die schwer zu fassen ist, da sie mit den bloßen Bestandteilen absolut inkongruent ist.
Eric Rohmer ist letztlich ein Grenzgänger des Kinos. Er drückt sich in Bildern aus, braucht aber die Worte, um auf das Mißverhältnis zwischen beiden aufmerksam zu machen. Schon in jungen Jahren als Schriftsteller hat er die Vermischung der Gattungen angestrebt. Kunst ist ein Prozeß, muß demnach flexibel sein und im Bestehen gleichzeitig einen anderen Zustand anstreben. Als Rohmer sich für die Sprache des Films entschieden hat, wußte er, daß er auch diese Sprache an ihre Grenzen führen mußte, um interessant zu bleiben. Damit erinnert er nicht entfernt an Alain Resnais, der ebenso sehr den (literarischen) Text braucht, um ihn in Bilder übersetzen zu können. Er geht voll darin auf, was Wolfgang Bongers die »produktive und paradoxe Inkommensurabilität von Film und Literatur« nennt. Rohmer setzt auf die »intermediale Differenz«, die »Zwischenräume des Imaginären in den Transformationsprozessen zwischen den Medien« schafft.
Man könnte auch sagen, Rohmer habe sich für das entschieden, was sein Nouvelle Vague-Kollege Godard eine »andere Art des Sehens« nennt. Godard sagt: »Im großen Kampf zwischen den Augen und der Sprache hat der Blick die größere analytische Kraft«, ein Credo, das letztlich auch Rohmer zugeordnet werden kann.
2012-03-14 14:09