Ein Ball aus Gas
Oder: Was das Kino auseinandertreibt
Von Kenneth Hujer
Zwei Produktionen haben im zurückliegenden Jahr maßgeblich die Filmlandschaft bestimmt: Der von Terrence Malick realisierte
The Tree of Life und Lars von Triers
Melancholia. Mit der »Faust«-Verfilmung Alexander Sokurows kommt nun ein Film in die deutschen Kinosäle, der den Vorgenannten sowohl formal als auch erzählerisch opponiert. In Konstellation gebracht verhelfen sie zur Einsicht, was das Kino auseinandertreibt und die Welt im Innersten zusammenhält.
Faust: Das metaphysische Spiegelstadium
Den Ort der Seele wisse nur Gott, weiß Wagner seinem Doktorvater recht zu Beginn von Alexander Sokurows »Faust«-Verfilmung zu sagen – und der Ort Gottes wiederum sei überall. Kurz darauf gibt Faust die grobschlächtige Suche nach der menschlichen Psychḗ inmitten der Eingeweide eines Toten auf. Eingeleitet wird diese Szene mit einer sich über einen Landschaftszug hinwegbewegenden Kameraaufnahme, die gleich den Einführungen von
The Tree of Life und
Melancholia vom Allgemeinen ins Besondere führt, von der Naturgeschichte aufs Biographische – obzwar in
Faust statt der Unweiten des Kosmos’ bereits der in Wolkenfetzen liegende Erdenhimmel die Grenze des Daseins markiert. Partikular bei Sokurow ist der Fingerzeig aufs Symbolische. So taucht ein durch die Luft schwebendes weißes Stück Papier auf, nachdem die Kamera einen zwischen den Wolken hängenden Spiegel fokussiert. Zwei zentrale Momente der faustischen Verzweiflung sind darin bezeichnet, die letztlich das geistige Kampffeld allen Zweifels bedingen: die Metaphysik.
Wie der Spiegel die Welt verdoppelt, so Nietzsche, trennt die Metaphysik den Sinn der Welt, um sich daraufhin zum Sinnursprung emporzuschwingen und die Welt geradewegs als ihr Abbild ein zweites Mal zu erschaffen. Gleich einer »Hinterwelt« walte die Metaphysik, deren moralische Strukturen über das stets brüchige Hier und Jetzt hinwegtragen, indem sie ein Sinnganzes garantieren. Daß Nietzsche sogleich alle Moral als bloße Konvention verwirft, muß nicht geteilt werden, um einzusehen, daß die menschliche Existenz genuin durch geistige Zusammenhänge vermittelt ist, die jenseits aller »reinen Gegenwart« liegen. Dazu korrespondiert die frühe Einsicht in Faust: Wie Gott keinen bestimmbaren Ort hat, bleibt die Seele im fleischlichen Körper unauffindbar.
Gott, das ist das letzthin Unsagbare, wie man sagt, der tiefste Grund allen Seins, ja die Einsicht in allen Sinnzusammenhang mit der zugleich zur Erkenntnis käme, warum das All ist. Doch um Faust herum wird der Glaube zur Tradition, korrigiert ein technisches Instrument ähnlich der Streckbank körperliches Leid, haben die Menschen fortwährend Hunger. Deshalb scheint einzig im verneinenden Geist des Mephisto eine letzte Ausflucht für den, der das Leben unter den Trümmern der Metaphysik vermutet, es vergraben ahnt unter der Schrift.
Melancholia: Die Ich-Stärke des melancholischen Allegorikers
In
Melancholia ist jener Spiegel im Film selbst montiert, reflektiert sich sein erster Teil in seinem zweiten – und wie die Spiegelfläche kein »Dazwischen« kennt, bietet auch der Film dem Zuschauer keine Pause zwischen beiden Teilen. Mit der Unendlichkeit des Kosmos zeigt von Trier zu Beginn seines Films bereits dessen Ende: Ein Komet schlägt auf die Erde ein und vernichtet alles Leben. Es ist die Physiognomie einer jeden Tragödie: Das Ende wird als auswegloses vorweggenommen und schenkt uns hierdurch einen Blick, der sich ganz auf die Beziehungen zwischen den Figuren konzentrieren kann, kurzum: auf ihre Kollision. In
Melancholia gilt dieser Blick zuvörderst dem Schwesternpaar Justine und Claire. Was jener keinen Sinn macht, ist dieser Selbstverständlichkeit: Das Leben lebt man.
Der Rahmen des ersten Filmteils ist Justines Hochzeitsfeier auf dem Domizil ihres Schwagers. Doch ist sie weit entfernt von dem Familienglück, das ihre Schwester Claire, Mutter eines Kindes, scheinbar umgibt. Justine eignet eine Melancholie, in deren Blick der Sinn von allen Gegenständen abfließt, die zur Treulosigkeit gegenüber den Menschen verleitet. Ihr Zustand ist das heimliche Wissen um die Hoffnungslosigkeit in Allem. Ein Zustand, den von Trier mit dem herannahenden Kometen zur Objektivität erhebt. Was im ersten Teil des Films noch das persönliche Versagen Justines ist, welches medikamentiert, wenn nicht psychiatrisiert gehört – sie scheitert an Etikett und Konvention, kapituliert vor dem Imperativ der Verfügbarkeit, verliert ihren just zum Gemahl erklärten Freund – wendet sich im zweiten Teil zur Ohnmacht gesellschaftlicher Institutionen: Claires Mann begeht Selbstmord, das familiäre Idyll zerbricht.
Vom Tode aus gesehen ist die Produktion der Leiche der Sinn des Lebens, schreibt Walter Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch. Justine hat mit dem drohenden Ende der Welt erstmals ihren Sinn gefunden. Eine Anerkennung, die ihr in der lückenlosen Ordnung des Glücks versperrt blieb. Und während jene Ordnung zerfällt, ihre Strukturen keine Bedeutung mehr haben, Claire mit ihrem Sohn hilflos in einem Golfmobil umherirrt, um ihn zu beschützen, und im Angesicht des bedrohlich herannahenden Kometen schließlich kollabiert, weiß Justine gleich dem Allegoriker den Dingen selbst eine Bedeutung zu verschaffen. Wo keiner mehr Antwort hat, erklärt sie wenige gegeneinander gestellte Äste zum magischen Unterstand und vermag zu behüten.
The Tree of Life: Etwas fehlt
An anderer Stelle bleiben Menschen zurück, erhält das Leben durch den plötzlichen Tod eines Menschen im Inneren einen Riss. Anstatt das Kind zu beschützen, hat in
The Tree of Life eine Mutter den Verlust ihres Sohns zu erleiden. In fragmenthaften Erinnerungen des hinterbliebenen Bruders Jack wird das Aufwachsen in einer Familie geschildert, deren Trauma sich in der Dualität der Elternteile reflektiert. Grob psychoanalytisch gesprochen bindet das väterliche Realitätsprinzip so sehr an die gesellschaftliche Maschinerie, wie die Mutter zärtlich ein unvermitteltes Phantasma zur Natur verspricht. Als psychosoziale Agenten leisten sie beiderseits Trauerarbeit. Aber wie es scheint, hat sich der Erinnernde nicht vom verlorenen Bruder lösen können. Als stünde er im Schatten des festgehaltenen Objekts, sieht man ihn abseitig aus seinem Bürozimmer auf eine gegenüberliegende Fensterfront blicken. Sein Vermissen scheint schlechterdings ein Kranken an der Zeit, weil alles unwiederbringlich vergeht, weil das Kind, das er selbst einmal war, gleichsam nicht mehr ist.
Szenen von Wüstenlandschaften und Tiefseegewässern, Naturgeschichte und Urzeit brechen in Terrence Malicks Film die Kindheitserinnerungen und durchwandern das Vergangene mit einer Traumsequenz, die sich gegen Ende des Films zum Wiedersehen der Verstorbenen verdichtet. Umgeben von den Weiten des Meers streift Jack seinen verstorbenen Bruder, ist umgeben von seinen Eltern, als sie im Alter seiner Kindheitserinnerungen sind. Sein Traum steht außerhalb der fortschreitenden Zeit und bringt in seiner Gegenwart so zusammen, was sich realiter unmöglich begegnen kann. Die Annahme einer zweiten realen Welt, wo der Tote fortlebt, die Zerlegung in Leib und Seele – für Nietzsche liegt in der Traumerfahrung der Ursprung aller Metaphysik: »Ohne den Traum hätte man keinen Anlaß zu einer Scheidung der Welt gefunden.«
Wovor Melancholia kapituliert, ist The Tree of Life heilig
Was sich in
Melancholia als nichtig ausnimmt und die Ohnmacht bestehender Sinnzusammenhänge offenlegt, ist in
The Tree of Life die geschaffene Leerstelle durch den plötzlichen Tod. Beide rühren an der eingeschliffenen Bewußtlosigkeit. In beiden wird mit eindrucksvollen Bildersequenzen von Urgewalt und Universum etwas vollbracht, das ebenso Jacks Erinnerungen bewirken: Wie diese als Zeiterlebnisse zugleich eine Überwindung der Zeit sind, ein Zusammensehen des Lebens als geronnene Einheit, sind jene Sequenzen ein zusammensehendes Erfassen. So lassen die poetischen Möglichkeiten des Kinos Erlebnisse großer Wesensnähe erahnen.
Inhaltlich jedoch könnten beide vorgenannten Filme verschiedener kaum sein, auch wenn sie dem gleichen Impuls aufsitzen, wie im Rückgriff auf Sokurows
Faust schlussendlich gezeigt werden soll. Vorweg läßt sich als These formulieren: Wovor
Melancholia kapituliert, ist
The Tree of Life heilig. Offenkundig treibt letzterer in seiner Naturdarstellung zur Perspektive, Natur als heilsamen Gegensatz zur Moderne zu ästhetisieren. Das dem Film vorangestellte Zitat aus dem Buch Hiob befördert hieran die Lesart, alles Leid und alle Ungerechtigkeit rückzubeziehen auf eine letztlich in sich wohlgeformte Schöpfung, der Ehrfurcht gebührt. Überhaupt erscheint die Familientragödie als Teil der Schöpfungsgeschichte inszeniert, so daß Thomas Assheuer in der ZEIT vom 16. Juni vergangenen Jahres über Malicks Film treffend formulieren kann: »Was den Menschen widerfährt, ist plötzlich nur noch ein Schattentheater auf dem Schauplatz der Evolution. Wie Marionetten hängen seine Figuren an den kosmischen Fäden eines unvordenklichen Geschicks, und sogar der sinnlose Tod des Sohnes erscheint plötzlich von organischer Konsequenz.« Zu bedenken wäre, inwiefern das von Malick provozierte Staunen darüber, wie alles ist, nicht das Leiden an der Frage sublimiert, warum all das eigentlich ist. Eine Frage, die in ihrer Dringlichkeit erst dann aufkommt, wenn ein unerklärter Schmerz alle Lebensregung hemmt. Adorno bemerkt in diesem Zusammenhang bündig: »Was überhaupt im bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt, ist bloß das Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung.« Aber weil Malick Natur fernab aller Vermittlung als an und für sich seiend begreift, sieht er in ihr nachgerade Wahrheit ausgewiesen, der man sich einzig anzuvertrauen habe.
Von Trier wiederum gestaltet einen Wahrheitsbegriff, der eng verbunden ist mit dem, was die Philosophen der Eigentlichkeit »Tiefe« nennen. Angelehnt an die Unterscheidung zwischen Welt und Erde suggeriert
Melancholia, daß unter den gesellschaftlichen Konventionen eine Wirklichkeit liege, welche einmal zum Vorschein gebracht, die alltäglichen Interpretationen des Erdenlebens als trist, ja verfehlt entlarvt. Das, was Heidegger in seinem Kunstwerk- Aufsatz mit »Riss« bezeichnet, ist bei von Trier getragen durch den auf die Erde katastrophisch zurasenden Planeten »Melancholia«, der den Menschen mit einem Mal auf seine bloße Existenz zurückwirft. Der Ritus der Festansprache, der zu werfende Brautstrauß, die anzuschneidende Torte, all das wirkt fortan geradezu lächerlich. Adäquat verhält sich einzig Justine. Nicht nur besitzt sie am Ende anders als ihre Schwester die Ich-Stärke, in der äußersten Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit eine Haltung einzunehmen, auch ist sie – das scheint die Dualität des Films nahezulegen – in ihrer vorherigen Depression die eigentlich Wahrhaftige, weil sie schon immer um die Hoffnungslosigkeit in Allem wußte.
In der antiken Humoralpathologie wurde der Melancholiker mit der schwarzen Galle assoziiert, die – verknüpft mit dem Element Erde – sein Denken stets ins Innerste führt. Dorthin führt auch das Ende von
Melancholia: der Zuschauer wird ins Planeteninnere geleitet – wo einen gleichwohl nichts als Dunkelheit umgibt. Sodass mit und gegen die Formsprache des Films zu schlußfolgern ist: Nichts ist unwahrer als das Dunkel der Innerlichkeit. Zwar taugt der Melancholiker als immanente Kritik des bestehenden Sinnangebots, wirklicher Sinn aber liegt jenseits aller Abgeschiedenheit. Auch, weil keiner ohne ein Gegenüber um Wörter wüßte.
Folglich irrt Lars von Trier, weil er sich per se gegen die metaphysische Annahme eines Sinnganzen richtet, das den Menschen über den Augenblick hinaus trägt. Ein jedes Erinnern referiert auf Identität, eine jede Hoffnung spricht sich durch Beständigkeit im Wandel. D. h. Metaphysik ist letzthin notwendige gesellschaftliche Praxis, der Mensch das »metaphysische Thier«. Ebenso scheitert
The Tree of Life mit seinem Versuch, das Sinnganze in der Kreatürlichkeit selbst auszuweisen. Denn mit diesem Jenseits-aller-gesellschaftlichen-Praxis fällt er hinter die Differenz zurück, welche allererst die metaphysische Anstrengung erzwingt: Sinn und bloßes Leben sind getrennt und damit das Wesenhafte und Zeitliche.
Statt der Auflösung, lehrt Sokurow das Aushalten
Die erlebte Differenz von Sinn und leerer Zeit wird auch Faust zum Problem, doch er lehrt, sie auszuhalten. Weil Sokurow weder die Identifikation mit seiner Hauptfigur verlangt, noch der Film durch Ästhetisierungen in ein Refugium flüchtet, bleibt Wahrheit bis zum Ende als Spannungsfeld verständlich. In Auerbachs Keller erklärt Sokurows Faust auf die Nachfrage des Wirts, was denn ein Komet zu bedeuten habe: »Ein Ball aus Gas«. Daraufhin beginnt der Wirt zu lachen. Faust hingegen beschert der sinnsuchende Blick durchs Teleskop bekanntlich Verzweiflung – wie die ständige Wiederholung ein und desselben Wortes dem sich in der Sprache umsehenden Kind. Weder ist die Wahrheit eines Planeten seine szientifische Beschreibung, noch ist er als mystifizierter eine Sinnantwort auf allen Zweifel. Vielmehr wird Faust bei dessen Anblick auf sich selbst zurückgeworfen und erkennt sich als Suchenden.
Sokurow gestaltet Fausts Suche vornehmlich als Streifzug, dessen Kohärenz immer wieder abreißt. Ohne sonst sichtbaren Sinn tauchen Gestalten auf und ohne einen Sinn sichtbar zu machen, tauchen sie wieder unter. Der erwähnte Impuls von
The Tree of Life und
Melancholia wird bei Sokurow umgangen; anstatt sich voreilig der an sich leeren Zeit zu entziehen, wird alles immer wieder in Konstellation gebracht. Selbst der Film führt dies aus, indem er die Dialoge seiner Textvorlagen neu ordnet. Was Goethes Faust spricht, berichtet bei Sokurow an manchen Stellen Mephisto und andersrum. Schließlich verhandelt der Film das Treiben seiner Hauptfiguren als den äußersten Versuch der Selbsterrettung. Nur so bleibt Wahrheit als weiterhin Gesuchtes flüssig. Bloß zu erahnen ist: Metaphysik ist vermittelt durch eine gesellschaftliche Praxis, alles Jenseitige bleibt abstrakte Kritik. Auf jeden Fall aber einsichtig wird: Das, was die Welt im Innersten zusammenhält, muß ein zeitlicher Fluchtpunkt sein.
2012-01-24 08:30