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Faust

RUS 2011. R,B: Alexander Sokurov. B: Juri Arabow, Marina Korenewa. K: Bruno Delbonnel. S: Jörg Hauschild. M: Andrei Sigle. P: Proline Film. D: Johannes Zeiler, Anton Adasinskiy, Isolda Dychauk, Georg Friedrich, Hanna Schygulla, Antje Lewald, Florian Brückner, Sigurdur Skúlason u.a.
138 Min. MFA ab 19.1.12

Der diskrete Charme des Teufels

Von Ekaterina Vassilieva Während Goethes Faust vor dem Johannes-Evangelium über die Frage sinniert, ob im Anfang tatsächlich das Wort oder vielleicht doch die Tat war, läßt Sokurov seine Version der Faust-Legende einfach mit einem männlichen Glied beginnen, das in Großaufnahme trotz seines schlaffen Zustandes fast monumental wirkt. Sekunden später bemerken wir jedoch, daß dieses Körperteil beinahe das einzige ist, was vom dazugehörigen Mann noch unversehrt blieb, denn es handelt sich um eine Leiche, die Faust in seinem Studierzimmer seziert. Bereits diese Bilder machen auf verstörende Weise deutlich, welcher Gefahr der männliche Macht- und Wissensbegriff im von Sokurov entworfenen Universum ausgesetzt ist. Trotzdem kann es Faust nicht lassen, in die Geheimnisse der Natur gewaltsam vordringen zu wollen. Wie bei einer grotesken Antigeburt per Kaiserschnitt greift er immer wieder in den geöffneten Bauch des Toten, um die Gedärme möglichst vollständig herauszunehmen. Soll es etwa schon alles gewesen sein, was man über ein Menschenleben in Erfahrung bringen kann?

Als Reminiszenz an seinen Film Vater und Sohn (2003) führt Sokurov die Figur von Fausts Vater in die Geschichte ein. Er hat als Arzt der alten Schule vorzugsweise mit Lebendigen zu tun und versucht erst gar nicht, hinter das Rätsel der Natur zu kommen. Seine Behandlungsmethoden – mal barbarisch, mal behutsam – stellen die Allmacht Gottes nicht in Frage. Deshalb ist er, anders als sein Sohn, gegen die Annäherungen Mephistos gewappnet. Der verbitterte Faust, der es mit seinen Forschungen weder zu Geld noch zu einem besonderen Ansehen gebracht hat, ist dagegen ein leichtes Opfer für den Teufel. Doch nicht nur die Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal treibt ihn zum verhängnisvollen Pakt: Sein wissenschaftlich geschulter Blick fixiert besonders scharf das Elend und die Ungerechtigkeiten, die die Welt erfüllen. Wer diese Welt erschaffen hat, verdient also wohl, daß man sich mit seinem Gegenspieler verbündet!

Mephisto, der bei Sokurov in Gestalt eines mißgebildeten Wucherers auftritt, bahnt sich langsam den Weg zum Herzen des neuen Wunschklienten. Die erste Unterschrift, die noch nichts weiter zu bedeuten hat, setzt Faust auf die Titelseite seines eigenen Buches, das Mephisto ihm als begeisterter Verehrer entgegenhält. Dann gibt er zu verstehen, daß es nicht so leicht ist, mit ihm ins Geschäft zu kommen, denn fast jeder, der in der Stadt etwas auf sich hält, steht schon auf der Warteliste. Prompt wird Fausts Konkurrenzsinn angespornt, und die Verhandlungen mit dem Teufel bekommen Priorität, denn nichts reizt den Gelehrten mehr als die Möglichkeit, sich auf einem komplizierten Gebiet als Bester hervorzutun.

Die Faszination, die von Sokurovs Mephisto ausgeht, ist schwer begreifbar, aber dennoch deutlich spürbar. Als Wucherer verfügt er über Geld, das ihm die Sorte Macht verleiht, die Faust nie besessen hat. Doch hinter seinen halb einschmeichelnden, halb überlegenen Gesten verbirgt sich gleichzeitig ein Wissen, nach dem sich Faust insgeheim sehnt. Mit der männlich-phallischen Macht hat das jedenfalls nicht unbedingt etwas zu tun, denn Mephisto fehlt, wie wir in der Badehausszene feststellen müssen, an der rechten Stelle das männliche Organ, das nun, geschrumpft und völlig seiner produktiven Funktion beraubt, wie ein Tierschwanz hinten hängt. Faust, der von den Möglichkeiten des rationalen (männlichen) Geistes sowieso enttäuscht ist, findet diesen symbolträchtigen Makel seines Freundes eher interessant als peinlich. Und genau hier ist der Punkt erreicht, an dem er bereit ist, den Reizen Gretchens zu erliegen. Denn die Allianz mit der Frau ist bei Sokurov immer mit dem Schwinden der Manneskraft verbunden. Nicht umsonst findet sein Gretchen Mephisto sympathisch, während sie bei Goethe die Gegenwart des Teufels unheimlich fürchtet. Doch gerade in dieser »Verweiblichung« des Helden erblickt Sokurov die Chance für seine Erneuerung. Denn ein Suchender, ein Schöpfer (der sein Faust letztlich ist) muß einfach die Grenzen überwinden, sei es zwischen männlich und weiblich, zwischen Heldentat und Sünde oder auch zwischen Leben und Tod. Und so ist Faust wahrscheinlich der Einzige, der aus Sokurovs Tetralogie über die Beschaffenheit der Macht (die noch Moloch [1999], Taurus [2000] und Sonne [2005] einschließt) als Sieger hervorgeht! 2012-01-13 18:43

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