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Melancholia

DK/S/F/D 2011. R,B: Lars von Trier. K: Manuel Alberto Claro. S: Molly Marlene Stensgaard. P: Zentropa, Memfis Film, Slot Machine, Liberator Productions. D: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Charlotte Rampling, John Hurt, Alexander Skarsgård, Stellan Skarsgård, Brady Corbet, Udo Kier, Jesper Christensen u.a.
130 Min. Concorde ab 6.10.11

Die schöne Todessucht

Von Jochen Werner Die Apokalypse findet hier bereits in den ersten Bildern statt. Eine Reihe hochstilisierter Extremzeitlupen zerdehnt die letzten Augenblicke vor dem großen Knall ins scheinbar Unendliche, und dann geschieht es doch: Der titelgebende Planet Melancholia trifft auf die Erde und zermalmt sie in einer kosmischen Explosion von majestätischer Schönheit.

Der Rest des Films wird vor der Katastrophe spielen, die sich dennoch in jedes einzelne Bild einschreibt. Dabei beginnt Melancholia betont ausgelassen, ja, geradezu am Rande der Hysterie: Justine (Kirsten Dunst) ist auf dem Weg zu ihrer eigenen Hochzeitsfeier, die in einem alten Herrenhaus stattfindet, dessen nächste Umgebung der Film in den folgenden zwei Stunden nicht mehr verlassen wird – ein Ort für ein Beckettsches Endspiel, der jede Lebenslust von vornherein in sich aufzusaugen scheint. Konflikte schwelen hier unter der brüchigen Fassade der Fröhlichkeit, die beinahe eine Brücke zurück in die Vergangenheit schlagen zum berühmten Dogma95-Debüt Das Fest, und schnell fällt die manisch-depressive Justine in destruktive Verhaltensmuster zurück. Während ihre Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) versucht, die zunehmend eskalierenden Feindseligkeiten halbwegs unter Kontrolle zu halten – was vor allem von der zynischen Mutter (Charlotte Rampling) der beiden Schwestern immer wieder torpediert wird –, läßt Justine ihren frisch angetrauten Gatten Michael (Alexander Skarsgård) sitzen, um stattdessen einen beliebigen Hochzeitsgast zu vögeln.

Der eigentliche (Science-Fiction-)Plot taucht dann erst in der zweiten Hälfte des Films wieder auf, der im wesentlichen als Dreipersonenstück nebst Kind inszeniert ist und sich an jenem astronomischen Phänomen ausrichtet, das schlußendlich zu der bereits vorweggenommenen Apokalypse führen wird. Jahrhundertelang hinter der Sonne verborgen, befindet sich der Planet Melancholia auf Kollisionskurs mit der Erde, und auch wenn ihr Ehemann John (Kiefer Sutherland) mit akademisch-elitärer Arroganz beharrlich seine Berechnungen vorträgt, der zufolge sich beide Planeten knapp verfehlen würden, wird Claire immer panischer angesichts der existenziellen Bedrohung und der absoluten Unfähigkeit, sich dagegen zu schützen. Justine hingegen blüht in all ihrer Todessehnsucht nachgerade auf und sonnt sich geradezu – ganz buchstäblich, in einer symbolisch völlig überdeterminierten Sequenz – im somnambulen Licht des angekündigten Todes.

Letztlich ist Melancholia ein Film über unterschiedliche Formen, dem Tod gegenüberzutreten – und unterschiedliche psychopathologische Reaktionen auf die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Die klinisch-depressive Todessucht Justines prallt auf die zunehmend hysterische Angstneurose Claires – während im kalten Rationalismus Johns ein konsequentes Ausblenden der eigenen Endlichkeit zum Ausdruck kommt, das zu gar keinem Umgang mit dem Tod noch fähig ist. So wird John im Grunde vielleicht gar von der Nebenfigur zur entscheidenden Größe im Zentrum vom Melancholia, stellt er doch in der Stellvertreterlogik des Filmes den archetypischen Menschen der Moderne dar, dessen aufgeklärte Nüchternheit ihn von allem, was seinen Rechenexempeln zuwiderläuft, längst abgekoppelt hat – und der sich folgerichtig zum atemberaubend schönen, in Ästhetik explodierenden Finale hin feige und umstandslos per Suizid aus dem Leben stiehlt. Damit macht er dann auch die Bahn frei für das endgültige Verströmen von Melancholia in die Untergangspoesie: Nachdem Lars von Trier seinen letzten Film, das weitgehend mißverstandene radikalfeministische Manifest Antichrist, bereits in die Camouflage des hypersymbolistischen Kunstfilm einhüllte (und es folgerichtig, ausgerechnet, Andrej Tarkovskij widmete), bleibt er auch hier einer Überstilisierung treu, die Melancholia wie einen Pflock durch das finstere Herz des prätentiös-gefälligen Arthouse-Kinos hindurchtreibt – nur um am Ende die (Selbst-)Zerstörung wie eine Erlösung zu begrüßen und in apokalyptischer Grandezza zu verglühen. 2011-09-30 14:24

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