Kinderspiele
Von Tobias Radlinger
Als der Krieg schon längst verloren war, schickte Hitlerdeutschland in einer beispiellosen Vernichtungsaktion noch einmal unzählige minderjährige Rekruten an die Front, um das breite Vordringen der Alliierten möglichst hinauszuzögern. Daß diese Jungen in nunmehr aussichtslosen Stellungskämpfen regelrecht verheizt wurden, ist zum Sinnbild einer ganzen, um ihre Jugend betrogenen Generation geworden. Von ihrem Schicksal erzählt eine der zweifellos wichtigsten Produktionen des deutschen Nachkriegskinos: Die Brücke schildert den sinnlosen Kampfeinsatz von sieben 16-jährigen Wehrmachtssoldaten in einer süddeutschen Kleinstadt und ist nicht nur ein bedeutender Beitrag zur bundesdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern auch einer der stilprägenden Antikriegsfilme überhaupt.
Atmosphärisch dicht und mit viel Gespür für Spannungszuwachs und Details inszeniert der bis dato nur als Schauspieler und Dokumentarfilmregisseur in Erscheinung getretene Bernhard Wicki den gleichnamigen autobiographischen Roman von Manfred Gregor. Behutsam fokussiert er dabei die Phase des Erwachsenwerdens, zeigt die sieben Charaktere in den jeweils unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung, formuliert ihre sexuellen Nöte und Sehnsüchte, ihr rivalisierendes Miteinander und beleuchtet auch eingehend das häusliche Umfeld, in dem sie heranwachsen. Anders als in der Romanvorlage werden ihre individuellen Biographien hier nicht in Rückblenden, sondern chronologisch skizziert, was eine weitaus größere Nähe zu den Figuren gestattet und auf die Zuspitzung der Geschehnisse im zweiten Teil des Films wie ein Präludium hinführt. Die Gesamtschau dieser sieben Charaktere zeichnet das Bild einer vergleichsweise sorglosen, von traumatischen Kriegserlebnissen weitgehend noch unberührten Jugend, die Sirenengeheul und Fliegerbomben noch als Teil jener Spielwelt begreift, der sie allmählich selbst entwächst.
Was diese Jungen – vom kindlichen, noch sehr naiv wirkenden Sigi (Günther Hoffmann) bis zum adoleszenten Hans (Volker Bohnet) – auch über Standesgrenzen hinweg eint, ist der jugendliche Heldenwahn, den ihnen ein propagandistischer Machtapparat schlechterdings einzuimpfen verstand. Als sie einberufen werden, brennen sie darauf, zu kämpfen; auch der Versuch ihres antifaschistischen Lehrers, beim zuständigen Hauptmann ihre Schonung zu erwirken, scheitert. Bereits hier zeigt sich der fatalerweise fehlgeleitete Idealismus einer gegen ihre Väter nunmehr aufbegehrenden Jugend, deren Geisteshaltung bereits nazistisch verbrämt ist – und somit unterentwickelt, degeneriert. Eigentlich sind es noch Kinder, ideologisch vergiftete Jungs. Entzieht man ihnen diese Vaterfiguren bis auf jenes heroische Über-Ich, das auch ein Freundschaftsband um sie spannt, bleiben ihnen nichts als ihre infantilen Tapferkeitsvorstellungen, denen sie, weil unfähig zur kritischen Distanznahme, zuletzt willfährig in den Tod folgen.
Und bittere Ironie: Die Dorfbrücke, ihr alter Spielplatz, soll verteidigt werden. So lebt der Spielcharakter weiter, jetzt ins Zynische gewendet – statt Schnapsflaschen werden hier Munitionskisten und Panzerfäuste verstaut. Es hat etwas Bitterbös-Burleskes, daß sie ausgerechnet zu ihrem vertrauten Brückenspielplatz beordert wurden, etwas, das entfernt geradezu an die doppelsinnigen Verkehrungen einer Screwball-Komödie erinnert. Der Ort der Kindheit wird zum Schauplatz von Kriegshandlungen, die diese Kindheit gewaltsam dementieren; er rahmt das folgende Gefecht in gleichsam schauriger Reminiszenz. Doch das Spiel weicht erst blutigem Ernst, als die feindlichen Panzer auffahren. Und wie der Kampf beginnt, muß mit der Brücke am Fluß auch die gemeinsam erfahrene Kindheit verteidigt werden.
Durch den sukzessiven Wegfall von Autoritäten (auch ein dramaturgischer Kunstgriff, um das Geschehen bis zur finalen Schlacht spannungsvoll zu verknappen) wird schließlich die krasse Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit des Krieges und ihrer blutjungen Einfalt ersichtlich: Ihr Unteroffizier, von einem Wachtrupp irrtümlich für einen Deserteur gehalten und erschossen, kehrt nicht mehr zurück; dann führen Wagenladungen voller flüchtender Frontsoldaten und Verstümmelter einige konzentrierte Eindrücke von Scheußlichkeiten an ihnen vorbei, die sie nicht recht begreifen können – sie sehen in Gesichter, die den Krieg gesehen haben. Und als der Nebel sich lichtet, stehen sie auf der Brücke in einer geradewegs natürlich eingenommenen Formation: wie sieben Kegel, bereit von alliierten Panzern überrollt zu werden.
Indem die Freunde Stück für Stück entmündigt und gewaltsam der Vernichtungsmaschinerie des Krieges preisgegeben werden, wächst unsere Anteilnahme an ihrem Schicksal, denn es sind eigentlich wir, die mit ihnen im Schützengraben liegen – wir erleben das Gefecht durch ihre Augen; wir werden selbst mit diesen Jungs allein gelassen und müssen ihr Sterben mit ansehen. Es sind Aufnahmen von bemerkenswerter Intensität, eingefangen mit kargem, vom Ausdruck der dreckverschmierten, ängstlichen Gesichter fast zärtlich gemildertem Pathos. Die vielleicht härtesten Schwarzweißbilder des deutschen Films.
2012-05-04 15:11