Liebe ist aller Laster Anfang
Von Sven Lohmann
Die siebziger Jahre waren an Skandalfilmen nicht arm, und von
Uhrwerk Orange und
Türkische Früchte über
Das große Fressen bis hin zu
Die 120 Tage von Sodom und
Der letzte Tango in Paris wurden dabei auch ganz ausgezeichnete Filme produziert, und keinesfalls nur vordergründige Schoten. Man könnte also meinen, man sei 1976 schon »was gewöhnt« gewesen, und für Nagisa Oshimas Projekt
Im Reich der Sinne müsste also damals eigentlich ein recht gelegenes Erscheinungsjahr gewesen sein, zumal mit Russ Meyer und
Deep Throat auch der Porno schon (bzw. noch) recht hoffähig war.
Die Handlung ist schnell erzählt: Der Bordellbesitzer Kichizo fängt ein Verhältnis mit seiner Angestellten Sada an, und ehe sich beide versehen, ist die Kiste außer Kontrolle: Die beiden schotten sich von der Außenwelt ab und geben sich ohne Rücksicht auf Verluste ganz ihren zunehmend sadomasochistischen Praktiken hin. Die Geschichte soll auf wahren Begebenheiten aus dem Jahre 1936 beruhen, wo man in Japan eine offenbar geistig verwirrte Frau auflas, die ein abgeschnittenes Gemächt mit sich trug. Natürlich ist so ein Film dann etwas anderes als
Schneewittchen und die sieben Zwerge. In Japan war man allerdings noch etwas prüder als in Europa: Obwohl in Tokyo gedreht, musste Oshima das Filmmaterial zur Entwicklung nach Frankreich schicken, um die japanische Zensur schon im Vorfeld zu umgehen, daher ist auch
Im Reich der Sinne eine offiziell japanisch-französische Koproduktion. Auch in Europa hatte
Im Reich der Sinne aber so seine Probleme. Bei seiner Aufführung auf der Berlinale 1976 verursachte er einen ungeheuren Skandal, wurde von der Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Pornographie beschlagnahmt. Es dauerte eineinhalb Jahre, bis der Film zurückkam mit dem Bescheid, er sei Kunst und dürfe mithin ungeschnitten gezeigt werden.
Die leidige Debatte »Kunst oder Porno« überschattet
Im Reich der Sinne also unübersehbar; wenn man sie vom Film abzöge, müsste er womöglich viel von seiner Bekanntheit einbüßen, seine Qualität hingegen föchte das nicht an. Oshima erzählt hier eine sehr konsequente Geschichte über die dunkle Seite der Liebe und über Isolation zu zweit, über die Verbindung von Sexualität und Tod, auf Psychologisierung verzichtet er dabei. Dementsprechend ist
Im Reich der Sinne auch eher bedrückende Kost; mit den freizügigen Filmchen, die zu jener Zeit in Deutschland etwa produziert wurden, hat Oshimas radikales Portrait einer amour fou nichts und wieder nichts gemein. Die geradezu kammerspielartige Handlung hat Kameramann Hideo Itoh in ausgesucht komponierten statischen Bildern eingefangen, ein visueller Genuss ist es also allemal - und definitiv nicht nur des Rufes wegen ein »Must-See«. Daß hier so einiges in der Darstellung (dem Sujet gemäß) überdurchschnittlich deftig ist, kann nicht geleugnet werden. Aber es wäre ja sonst auch langweilig. Und diese als völlig selbstverständlich inszenierte Pikanterie hat Oshima manch anderem »Skandalfilm« voraus, der ohne die Publicity durch ein paar selbstzweckhafte berüchtigte Szenen sofort wieder in der Versenkung verschwunden wäre.
2010-02-12 14:11