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Kinofest Lünen 2011

22. Festival für deutsche Filme. D 2011. L: Michael Wiedemann.
Lünen, 10. – 13.11.11
Der vielleicht schönste Beitrag des Langfilmwettbewerbs: Dicke Mädchen von Axel Ranisch

Von läutenden Glocken und dicken Mädchen

Von Oliver Baumgarten Wer während des 22. Kinofest Lünen das Festivalkino Cineworld betrat, wurde mit einer großflächigen Projektion bestbekannter Bilder begrüßt: Die Karl-May-Filme der 1960er Jahre liefen über die eigens im Foyer erhöht installierte Leinwand. Wie im Museum gemahnten die dergestalt exponierten Filme an eine längst vergangene Zeit, in der man auch in Deutschland mal über eine Traumfabrik verfügt hatte, über eine Struktur also, die es ermöglichte, in industrieller Produktionsweise Stoffe zur Alltagsflucht zu liefern. Verbunden mit einer Kinoplakatausstellung in den Hallen der ortsansässigen Sparkasse bildete diese liebevolle Huldigung im Kinofoyer ein hübsches Mahnmal an den vergangenen Kintopp.

Denn der aktuelle deutsche Film, das zeigte auch der Wettbewerb des auf ihn spezialisierten Kinofestes deutlich, hat mit der Filmindustrie jener Tage natürlich nichts mehr gemein. Und das nicht nur, weil es kaum noch klare Genrebeiträge gibt und nur sehr wenige Stars, sondern vor allem, weil viel individueller und differenzierter von Lebenswirklichkeiten erzählt wird – beziehungsweise von Lebensmöglichkeiten. Viele Wettbewerbsbeiträge behandelten auf die eine oder andere Art die Frage nach alternativen Lebensentwürfen, nach den Möglichkeiten, die sich uns bieten, und nach dem, was hätte sein können.

Im vielleicht schönsten Beitrag des Langfilmwettbewerbs zum Beispiel lernen die beiden Hauptfiguren überhaupt erst, daß es für sie auch andere Lebensmöglichkeiten als die gewohnte geben kann – was noch lange nicht heißt, daß man sie deswegen ergreifen muß. Dicke Mädchen, ein No-Budget-Film, der 517 Euro und ein paar Zerquetschte gekostet haben soll, ist ein begeisterndes Stück filmischer Improvisation. Wie DV gewordener Gilb wirkt der Look aus gewollt unsauberen Bildern und dem antiquierten Mustertapeten- und Schrankwand-Setting des Hauptmotivs: Zu lange schon lebt Sven im gleichen Trott, so lange, daß sein Leben offenbar zu muffen begonnen hat. Liebevoll kümmert er sich gemeinsam mit seinem Freund Daniel um seine demente Mutter, wohnt bei ihr und versüßt ihr den Lebensabend. Als sie plötzlich stirbt, ändert sich alles für ihn, und Sven und Daniel finden noch näher zueinander – so nahe, wie sie es nicht vermutet hätten. Am Ende geht Sven einen Weg, der ihm zuvor undenkbar erschienen war. Von Ruth Bickelhaupt, Heiko Pinkowski und Peter Trabner grandios gespielt, brennt Regisseur Axel Ranisch ein wunderbares Feuerwerk an krudem Charme, Witz und Erzähllust ab. Hier haben sich drei Kreative frei gemacht von der Konvention und vom Druck der Konfektion und haben einfach losgelegt. Das Ergebnis strahlt diese Befreiung aus und lebt auf spannende Weise von der Persönlichkeit seiner Macher.

Ein anderes Leben hätte auch Leon führen können – hätte ihn seine Mutter nicht kurz nach der Geburt in die Babyklappe gelegt und wäre er daraufhin nicht vom verstockten Kulturbourgeoisie-Pärchen adoptiert worden, das er fortan seine Eltern nennen mußte. Carsten Ungers Thriller Bastard impft einen solch großen Verlustschmerz in seine junge Hauptfigur, daß dieser zu extremen Aktionen neigt. Handwerklich sehr gelungen, leidet Bastard allerdings unter seiner erzählerischen Überfrachtung, die ihn ziellos und unpräzise und leider stellenweise auch etwas unglaubwürdig erscheinen läßt. Anders gesagt: Das berühmte »Kill your Darlings« hätte im Schneideraum konsequent Verwendung finden müssen – häufiger jedenfalls, als auf der Leinwand.

Ebenfalls zu lang ist leider auch Toms Video geraten. Das ist wirklich bedauerlich, denn der Ansatz einer Fake-Doku im Stile von The Blair Witch Project, versetzt in eine bürgerliche Einfamilienhaus-Vorstadt, entwickelt eine angemessen grauslige Atmosphäre – bis zu dem Punkt, an dem die Geschichte auf der Stelle zu treten beginnt und die Filmemacher Anne von Buskow und Autor Nik Sentenza ihrer Wirkkraft nicht mehr zu trauen scheinen. In diesem Moment nämlich ziehen sie ein CGI-Monster aus dem Hut, und alle zuvor so tapfer aufgebaute Glaubwürdigkeit ist dahin.

Der Wettbewerb bot mit unterschiedlichen Filmen wie diesen sowie mit Dokumentarfilmen wie Berg Fidel von Hella Wenders (Gewinnerin des Hauptpreises, der Lüdia) oder Der Brand eine hübsche Mischung. Brigitte Maria Berteles Der Brand zum Beispiel kommt strukturell zwar recht konventionell daher, dafür funktioniert er einwandfrei und erzählt mit gelungener Wucht von Judith, die nach einer Vergewaltigung den Täter bestraft sehen möchte und plötzlich selbst beschuldigt wird. Der Brand meidet dabei größtenteils Gerichtssäle und Polizeistuben, sondern konzentriert sich ganz auf die psychologischen Auswirkungen auf seine Hauptfigur und (vornehmlich) deren männliches Umfeld. Eine runde Arbeit mit mutigem Schluß und einer hervorragenden Maja Schöne in der Hauptrolle.

Stars, Sujets und Rollen im Sinne der 1950er und 60er Jahre sucht man in den aktuellen deutschen Filmen also vergeblich. Dafür aber ist die Bandbreite des Erzählten um viele Aspekte größer geworden als damals. Die Konzentration auf individuelle Geschichten, auf zeitgenössische Themen zeichnet heutiges Kino in Deutschland aus, und das macht es im Idealfall, das hat auch Lünen 2011 wieder einmal bewiesen, so besonders spannend. Und hier im Lüner Kino Cineworld konnte sich seine Portion Traumfabrik schließlich jeder im Foyer selbst abholen, wenn er im Gespräch vertieft aus den Augenwinkeln heraus wieder einmal sehen konnte, wie Rollins auf Old Shatterhand anlegt, Winnetou dazwischen springt und getroffen zu Boden sinkt. Nur das christliche Glockengeläut, das man damals aus zweifelhaftem Mitgefühl auf des Indianers Tod gelegt hatte, mußte man sich im Foyer dazu denken. Und noch während man darüber nachdachte, ob wohl Lars von Trier sich für sein absurdes Himmelsglockenende in Breaking the Waves von ebendiesem Gebimmel in Harald Reinls Winnetou 3 hat inspirieren lassen, geht’s auch schon mit dem nächsten Film weiter. Lünen ist echt die Härte. 2011-11-22 12:34
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