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Daniel Kothenschulte

Ein unsicherer Blick in die Zukunft. Filmkritiker Daniel Kothenschulte im Interview.

Das Ende der Filmkritik?

Die Trauer kennt keine Worte.

Von Robert Cherkowski Gehört die Zukunft der cineastischen Berichterstattung im Print den Fanzines und Service-Postillen? Müssen die Taschentücher gezückt werden, um das Ende der Filmkritik zu beweinen? Schwere Zeiten schreien nach langen Gesprächen und heischen nach Trost. Im Gespräch mit Filmkritiker Daniel Kothenschulte fragten wir nach dem Quo Vadis der gedruckten Filmkritik und wollten wissen, ob sie in Zukunft noch relevant sein wird, was ihr fehlt und ob sie jemals relevant war.

Zu welchem Zeitpunkt war die Filmkritik wirklich wichtig?

Wichtig war die Filmkritik ab 1913 bis in die 1920er Jahre hindurch, als sich das Kino als Kulturform definiert hat und Kritik sozusagen noch eine aktiv begleitende, formgebende und prägende Rolle spielen konnte und durfte. Das hielt auch bis zum Übergang in Richtung Tonfilm an. Einen schlagartigen Rückgang gab es dann in den 1930er und 40er Jahren, als das industrielle Kino die Oberhand gewann und es weniger darum ging, künstlerische Entscheidungen oder Alternativen zu diskutieren. Wichtig wurde es dann erst wieder in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, als eine neu zusammengefundene Bewegung an Kritikern sich daran machte, Nachholarbeit bezüglich der verlorenen Jahre zu leisten.

In den 1970er Jahren gab es einen neuen Boom, als es darum ging, einen Diskurs zu entfachen und zu führen, der das Medium Film auch akademisch auf den Plan brachte. Filmgeschichte war bis dahin noch kein akademisches Fach. Zu jener Zeit habe auch ich angefangen über Film zu schreiben, wobei ich sehr von Kritikern wie Hans-Christoph Blumenberg inspiriert und motiviert wurde. Das Schreiben über Film bedeutete für mich, den Lesern mit einer jeden Kritik klarzumachen, daß und warum Film bedeutsam ist. Genauso bedeutsam wie Literatur. Man kann sagen, daß diese Botschaft irgendwann auch angekommen ist und von da an war diese Rhetorik nicht mehr so nötig. Als das Bewußtsein für die Relevanz des Films sich einmal etabliert hatte, stand der neue Fassbinder als Kunstwerk ebenso hoch im Kurs wie ein neuer Böll.

Es folgte eine postmoderne Entwicklung Ende der 1980er Jahre, und ab da war es möglich, daß auch die Blockbuster und das Eventkino im großen Stil besprochen wurden, was vorher nicht so üblich war. Es war ein harter Kampf, damals seriös über Rambo zu schreiben –

Welchen Teil?

(Lacht) Die Reihe an sich. Beim letzten war der Kampf dann entschieden. Ich meine vor allem den ersten Teil, der noch mit einer Debatte um das FBW-Prädikat »besonders wertvoll« einherging. Das war hart umkämpft, ob ein solcher Film überhaupt Feuilleton- Thema ist. Ein echtes Politikum. Oder wenn man heute in die 1970er Jahre und die ersten Martial-Arts-Filme zurückdenkt, die uns erreichten. Shaw-Brothers- Filme, die heute längst kanonisiert sind und uns wie kleine Heiligtümer vorkommen, kamen damals schlecht weg und wurden in Kleinstbesprechungen verheizt. Peinlich im Nachhinein und ein Fehler, den man nicht wiederholen wollte. Zu jener Zeit wurde dann Popkultur im Feuilleton ausgiebig besprochen. Da haben sich einfach viele Schranken geöffnet und Scheuklappen wurden abgelegt.

Diese schöne Entwicklung endete jäh, meiner Meinung nach um die Jahrtausendwende, als das Zeitungssterben einsetzte, die neu gegründeten Ressorts zusammengelegt wurden und die Chefredakteure der Kulturteile die plötzlich angesehene Madonna selbst besprochen haben. Darauf hat Dietrich Diedrichsen damals schon hingewiesen. Diedrichsen war ohnehin einer der tonangebenden Köpfe, als es darum ging, dieses Pop-Phänomen in die Feuilletons zu heben. Und das, obwohl er nie als Feuilleton-Redakteur gearbeitet hat. Der hat früh erkannt, daß das eine Einbahnstraße ist. Wenn man sich heute umsieht, merkt man auch, daß es nur noch eine Handvoll Pop-Redakteure gibt.

Wenn man also fragt, warum die ernsthafte Filmkritik sich so im Rückzug befindet, dann liegt das daran, daß der Film aus der Wahrnehmung der als ernst angesehenen Künste verschwindet. Der Prozeß der »Hoffähigmachung« hat 100 Jahre gedauert und in dem Moment, als das Kino als »angekommen« galt, brauchte man sie nicht mehr. Und heute geht selbst das sogenannte Arthouse-Publikum ins Kino, um sich da zerstreuen und gefällig unterhalten zu lassen. Da geht’s nicht mehr um Kunst. Die Debatte, die im Feuilleton geführt wurde, war eine Kunstdebatte und diese Debatte will keiner mehr hören.

Ist die Debatte damit beendet oder wird sie nicht vielmehr an anderen Fronten fortgeführt, in Foren, in Blogs, an Universitäten?

Lange Zeit hätte ich gedacht, daß Universitäten ein Gradmesser wären, aber da ist es ja genau nicht der Fall. Das sind ja mittlerweile die ersten, die wieder neue Disziplinen schaffen, wie die sogenannten Curatorial Studies, die eben die Filmwissenschaft wieder »zurückplatzieren« zur Medienwissenschaft. In gewisser Hinsicht findet da ein Rückschritt zur Publizistik statt, wo die Filmkritik in Deutschland erstmal unterkam, bevor sie sich emanzipierte. Da geht es nicht mehr um die Eigenarten einer Kunstform, sondern audiovisuelle Medien im Allgemeinen. Auf der anderen Seite ist es so, daß der Teil der künstlerisch relevanten Avantgarde mehr und mehr eher der Kunstgeschichte zugeschrieben wird, weil die Museen mittlerweile eben auch die Abspielorte für Avantgardefilme geworden sind, was früher die Programmkinos waren, die es heute nicht mehr gibt.

Man muß sich die Publikumsstruktur der »Programmkinos« ansehen. Innerhalb der letzten fünf Jahre ist der Altersdurchschnitt da um circa zehn Jahre gestiegen. Das ist auf der einen Seite natürlich durchaus erfreulich, weil man sagen kann, daß wieder vermehrt Bildungsbürger ins Kino gehen, die das vorher nicht getan haben. Wenn sie allerdings ins Kino gehen, wollen sie auch oft nur etwas sehen, was sie in ähnlicher Form auch im Fernsehen sehen. Die wollen da nichts neues kennenlernen, sich nicht herausfordern lassen und weder den neuen Godard noch junge Künstler sehen, sondern entspannte, gehobene Unterhaltung im Ziemlich beste Freunde-Stil. Dafür braucht es keine Vermittlung durch Kritiker, die sich durch den Wust an Veröffentlichungen schlagen und denen der Leser folgen konnte. So war es ja für lange Jahre. Man hatte einen Lieblingskritiker aus dem lokalen Blatt oder einer der deutschlandweiten Zeitungen, dem man nicht bedingungslos folgen mußte, an dessen Meinung man sich jedoch orientieren konnte. Ein solcher Guide ist nicht mehr nötig.

War das mal ein Anspruch, für sich und andere einen Kanon zu schaffen?

Nicht wirklich. Ich mag keine Kanonbildung, weil das immer mit so einem Bildungsdünkel einhergeht, daß man jetzt manche Sachen unbedingt gesehen haben MÜSSTE. Es war ja schon in der Schule so, daß die Sachen, die man zu lesen verpflichtet war, keinen Spaß gemacht haben. In den 1970er Jahren war es ja so, daß durch das Fernsehen ein Kanon der großen Regisseure gebildet wurde. Die großen Regisseure wurden gespielt und einer breiteren Masse vorgestellt, aber darum herum war man eben nach wie vor blind. Man orientierte sich sehr an dem, was die Cahiers du Cinéma vorgegeben hatte, doch man blickte nicht über diesen Tellerrand hinaus.

Vielleicht schlägt da tatsächlich die Stunde neuer Medien, die Lücken zu schließen und gerade durch einen permanenten, fruchtbaren Dialog unbekanntes Land abzustecken.

Auf jeden Fall wird da viel möglich. Man muß natürlich diese neuen Foren benutzen und auch für mich ist es ein wichtiger Gradmesser geworden. Vor allem im Genrekino. Was nutzt einem eine neue Comic-Verfilmung, die schon innerhalb der Community gedisst wird? Das ist wichtig, gar keine Frage. Da kommen viele Möglichkeiten auf.

Trotzdem wird aus dem Dünkel der Printkritiker nach wie vor auf den Blogger, den Reviewer und die Net-Community herabgeschaut.

Der Punkt ist, daß wir, meine Kritikergeneration, diesen Beruf ausgewählt haben, weil wir das gerne machen wollten und es uns wichtig war, unsere Namen da gedruckt zu sehen und veröffentlicht zu werden. Es war total schwer, die Hürden auf dem Weg dorthin zu überwinden. Wären diese Hürden damals schon so niedrig gewesen wie heute durch das Internet, hätten wir uns die Mühe wohl alle nicht gemacht, uns in diese Zeitungen reinzuarbeiten und einfach so geschrieben. Wo ist der Unterschied? Es macht einen ja kein bißchen qualifizierter, daß man sich diese Mühe gemacht hat. Vielleicht wäre man ohne diese Hürden ja auch viel eher der Erkenntnis nähergekommen, daß es mit der Filmkritik zu Ende geht (lacht).

So stehen die professionellen Kritiker heute in Konkurrenz mit dem, was Sie einst als »engagierte Laien« bezeichnet haben. Der Blick auf die streitbaren Qualitäten so mancher Profis läßt hingegen am Wert der Professionalität zweifeln. Bis heute gibt es keinen Studiengang »Filmkritik«. Wann also ist ein Kritiker professionell?

Stimmt. Es gibt kein Diplom dafür. Die Grundvoraussetzung über Film zu schreiben ist nach wie vor die Liebhaberei, die man in keinem Studium lernen kann. Die wichtigsten Filmkritiker waren auch nicht akademisch ausgebildet. Gutes, andauerndes und über Jahre gereiftes Schreiben ist eine gute Ausbildung. Wenn es um Professionalität und ihre Definition geht würde ich sagen: Professionell ist der, der davon lebt.

Hat man als Kritiker überhaupt noch die Chance, einen wirklich meßbaren Unterschied zu machen, einen Film merklich zu pushen oder ihm zu schaden? Bei Blockbuster-Produktionen mit großen Werbeetats liegt es ja bestimmt nicht in der Hand der Kritiker, doch wie sieht es bei kleinen Produktionen aus?

Ich hab mit Verleihern und Kinobetreibern schon oft darüber gesprochen. In Frankfurt gibt’s ein kleines Kino, das Malsehn Kino, wo es sehr meßbar ist. Wenn ein Film da positiv besprochen wird, haben die 80 Besucher, wenn nicht, gerade einmal 40. Bei kleinen Filmen oder Dokumentationen geht es bei einer Besprechung um Leben und Tod. Wenn er nicht besprochen wird oder keine Resonanz erhält, überlegt sich ein Kinobetreiber, einen solchen Film überhaupt ins Programm zu nehmen. Da macht man noch eindeutig einen Unterschied. Bei Großproduktionen, die ohnehin in den Medien präsent sind, macht es hingegen weniger Unterschied, das stimmt schon. Ich versuche, da auch gegenzusteuern und nicht immer dem vermeintlich »größten« Film den größten Text zu widmen, wenn es sich mit der Leserstruktur der Zeitung beißt. Wenn die Feuilleton-Leser sich nun eher in Bildungsbürger-Schichten bewegen, macht es wenig Sinn, ihnen die Vorzüge des neuen X-Men-Films anzutragen, als auf einen französischen Liebesfilm hinzuweisen. Das ist nicht unbedingt das einzige Kriterium, aber wenn man sich stets nur für den »größeren Film« entscheidet, entfernt man sich von der Leserschaft und letztlich – was viel schlimmer ist – von sich selbst.

Die Entfremdung zwischen Schreiber und Text und Schreiber und Leser mag eine Gefahr für den Fortbestand der Kritik sein. Die anhaltende und fortschreitende Print-Krise spielt bestimmt auch eine nicht geringe Rolle.

Ich kann nur die Entwicklungen hochrechnen, die jetzt passiert sind. Wie viele Zeitungen sind zusammengeschrumpft oder ganz gestorben? Da muß man nur nach Amerika gucken, wo die Entwicklung eher eingesetzt hat und weiter fortgeschritten ist. Deutschland ist groß genug für drei überregionale Tageszeitungen. Dazu kommt noch eine Wochenzeitung und das war es dann, was überregionales Feuilleton angeht. Auch in gutsituierten Regionalzeitungen wird es noch solang seriöse Filmkritik auf hohem Niveau geben, wie sich eine Leserschaft für Printmedien erwärmen läßt. Wenn da zu viel Konkurrenz an den Seiten auftaucht, wird das jedoch auch sein Ende finden. Damit stirbt über kurz oder lang ein Stil an Filmkritik, der sich an Feuilleton-Leser wendet, Leute also, die sich für Kultur im allgemeinen interessieren und den Film auf Augenhöhe mit bildender Kunst, Literatur, Theater und anderer Hochkultur behandeln. Wenn das nicht mehr der Fall ist, kann das natürlich auch Vorteile haben. Dann kann man sich ja sagen: Dann schreibe ich halt nicht mehr für diesen Leserkreis, sondern so wie ich will, was man natürlich auch so machen kann, aber man verliert seinen Adressaten, weiß nicht mehr, an wen sich der Text letztlich richtet. Wie man sich da eine Nische schaffen kann, zeigen die großartigen Blogger, die sich ihren eigenen Kontext schaffen und ihren Erfolg und ihre Klickzahlen dadurch gewinnen, daß sie sie selbst sind. Und das ist total beneidenswert, wenn es so ist. Da vermisse ich dann jedoch den direkten Dialog mit meinesgleichen.

Ist der Dialog des Bloggers nicht viel unmittelbarer?

Das ist der Dialog mit dem Leser. Ich meinte eher den Dialog mit anderen Schreibern auf einer gedruckten Doppelseite. Das klingt zusammen. Das find ich toll, wenn man weiß, man zieht zusammen an einem Strang und es ergibt sich ein Mehrklang an Stimmen, die zu einer werden.

Ist es denn wirklich noch ein »Miteinander« in besagten Filmteilen? Man kann nicht für alle sprechen, aber ist der »Futterneid« unter Kritikern nicht zu groß und zu oft von Mißgunst geprägt?

Das ist gewiß nicht besser geworden, aber es ist auch nichts Neues. Das Miteinander war ein Miteinander der Texte. Ein Miteinander im Diskurs. Der Futterneid und das Hauen und Stechen waren ein Kampf, den ich ungern wiederholen würde. Ich hab mich damals beim Kölner Stadtanzeiger hochgearbeitet und da bekam man erstmal winzige Texte, um die man kämpfen mußte, um dann irgendwann mal einen größeren Text zu bekommen. Links und rechts neben einem gab es andere, die es genauso versucht haben. Klar, daß das keine Freunde gibt. Für mich war es damals dennoch das wichtigste, ordentlich gedruckt zu werden in einer angesehen Zeitung und von da aus zu wirken, neben Namen wie Michael Althen, Fritz Göttler oder Norbert Grob.

Namen aus allen Teilen Deutschlands. Gab oder gibt es unterschiedliche Strömungen, entstehend durch die Hochburgen deutscher Pressestädte, die von Lokalmatadoren, Studentenzirkeln oder Mentalität geprägt werden?

Ach, das wird ja von den Pressebetreuungen immer betont, daß Köln so übertrieben hart und kritisch wäre… Ich glaub da nicht dran. Berlin ist auch hart. München ist etwas sanfter, aber Frankfurt ist auch ziemlich ruppig. Warum sollte es unterschiedlich sein? Es sind ja die gleichen Filme. Auffällig ist höchstens München. Da gibt man sich in jeder Hinsicht cinephil und liebhaberisch. In erster Linie geht man da zu Pressevorführungen, weil man das Kino eigentlich toll findet und viel sehen will. Wenn ein Film weniger schön ist, dann ist das gewiß schade, aber eigentlich ist Kino toll. Wenn man das erst einmal aufgegeben hat, findet man das natürlich auch alles nicht mehr so nett.

Glauben Sie, daß der anstehende Michael Althen Kritikerpreis für frischen Wind in der Szene sorgen wird oder vielmehr das verdeutlicht, was im Argen liegt?

(Lacht) Auf diese 10.000 Euro wird wohl niemand verzichten wollen. Das ist ein wenig, als ob man unter Bettlern eine Champagner-Flasche verlost. Schön ist jedoch, daß dieser Preis die Leistung eines Kritikers über seinen Tod hinaus ehrt und deutlich macht, daß Kritiken zwar an die Zeit ihres Entstehens gebunden, aber nicht gefesselt sind, sondern die Zeit ihres Entstehens erfahrbar machen. Daß es obendrein das Lebenswerk Althens ehrt, ist ohnehin schön, da er eine cinephile Weltsicht in seinen Texten vertreten hat. Er hat eine echte Harmonie zwischen dem Leben und der Welt des Kinos hergestellt, die man in seinen Texten spürt. Seine Texte sind auch mehr als bloße Gebrauchslektüre über die Qualitäten eines Filmes, sondern handeln vom Leben selbst. 2012-11-08 14:52

Info

Daniel Kothenschulte arbeitet als Filmkritiker u.a. für die Frankfurter Rundschau, darüber hinaus hat er mehrere Bücher zum Thema Film verfaßt und ist stolzer Besitzer der umfassendsten Sammlung glamouröser Hollywood-Fotos.

Abdruck

© 2012, Schnitt Online

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