Nichts bedauern
Von Arezou Khoschnam
Nach dem internationalen Erfolg mit dem Animationsfilm
Persepolis hat Marjane Satrapi nun einen weiteren ihrer Comics verfilmt: In dem Spielfilm
Huhn mit Pflaumen erzählt sie die traurig-humorvolle Geschichte eines begnadeten Geigers, der mit Hilfe seiner Musik seine verlorene Liebe am Leben erhält und sich schließlich dem Tod hingibt, als seine geliebte Violine zu Bruch geht. Anlaß für den »Schnitt«, mit der in Frankreich lebenden Künstlerin über die Notwendigkeit von Phantasie, ihre Beziehung zu ihrem Heimatland, dem Iran, und ihre künstlerische Motivation zu sprechen.
Wie ich in Interviews gelesen habe, haben Sie die Verfilmung von Persepolis im Nachhinein in gewisser Weise ein wenig bedauert. Wie ist es nun, nach der Verfilmung Ihres Graphic Novels Huhn mit Pflaumen, bereuen Sie irgendwas?
Ich habe es nie bereut,
Persepolis verfilmt zu haben. Anfangs, als man mir anbot, aus dem Buch einen Film zu machen, dachte ich, das wäre die schlechteste Idee auf der Welt. Meine eigentliche Frage war, warum schreibt man erst ein Buch und macht danach einen Film daraus? Sogar heute habe ich keine Antwort darauf. Normalerweise ist die Verfilmung eines Buches, besonders wenn sie vom Autor der Buchvorlage selbst stammt, nicht gut. Aber zur gleichen Zeit gab man mir plötzlich genug Geld, mit dem ich neue Erfahrungen machen und etwas Neues ausprobieren konnte. Also habe ich das Angebot angenommen – allerdings mit dem Bewußtsein, daß es eine sehr schlechte Idee ist, ein Buch zu verfilmen.
Schließlich entstand daraus ein guter Film, und ich war froh, daß ich mein Buch verfilmt hatte. Solange ich etwas Neues lerne, habe ich nie das Gefühl, daß ich meine Zeit vergeude. Nach dieser Erfahrung fing ich an, mich sehr für das Kino zu interessieren.
Huhn mit Pflaumen erzählt eine sehr schöne Geschichte, und ich liebe ihre Erzählstruktur; wenn nicht, hätte ich daraus sicher keinen Film gemacht. Aber diese zweite Adaption wird meine letzte sein. Das nächste Mal werde ich ein Originaldrehbuch schreiben, denn es ist langweilig, erst ein Buch zu schreiben und daraus dann einen Film zu drehen. Beim ersten Mal war es Zufall, beim zweiten Mal gab es bereits die Geschichte, und ich hatte Lust, etwas Neues daraus zu formen.
Weshalb haben Sie nicht erneut einen Animationsfilm gedreht und sich stattdessen für einen Mix aus unterschiedlichen Genres entschieden und ein Life Action Movie gedreht?
Ich wollte etwas Neues ausprobieren, einen richtigen Spielfilm drehen. Ich rücke den Film in gewisser Weise in die Nähe des Magischen Realismus. Daß aus
Persepolis ein Animationsfilm wurde, hatte einen bestimmten Grund. Wenn man eine Geschichte mit bestimmten Anspielungen auf Krieg und Revolution in einem bestimmten geographischen Rahmen erzählt, besteht die Gefahr, daß die Zuschauer sich nicht angesprochen fühlen, weil die Menschen ihnen nicht ähnlich sehen und es nicht ihre Geschichte ist, die erzählt wird. Eine Zeichnung hingegen hat etwas Abstraktes an sich, sodaß jeder einen Bezug zu ihr aufbauen kann.
Ich war aber nicht der Meinung, daß eine Animation den perfekten Stil verkörpere und daß wir diesen von nun an immer wählen würden. Auch damals hat mich das Neue gereizt. Manchmal wird daraus ein Erfolg, manchmal ein Mißerfolg, aber wenigstens habe ich es versucht. Ich probiere ständig neue Dinge aus. Da Vincent Paronnaud und ich die Ästhetik der 1950er Jahre lieben und auch die Kinoästhetik dieser Zeit, haben wir bei
Huhn mit Pflaumen viele Zeichnungen eingebaut. Der Plot ist sehr realistisch, denn letzten Endes geht es um einen Mann, der beschließt zu sterben. Daran ist nichts spektakulär. Auf dieser realistischen Basis haben wir viel Magie hinzugefügt.
Also haben Sie bei Huhn mit Pflaumen nicht die Absicht gehabt, eine universelle Geschichte zu erzählen?
Doch, natürlich. Zu einer imaginären Welt kann jeder eine Verbindung aufbauen. Dazu kommt, daß man für die Rekonstruktion Teherans in den 1950er Jahren entweder ungeheuer viel Geld benötigt, mit dem man dann komplett im Studio arbeitet, oder man geht ins Studio und baut nur einen Teil davon nach. Bei letzterem ähnelt das Ergebnis dem Original mit dem Zusatz, daß es erlaubt, viel Phantasie zu benutzen.
Was sind die Vorteile, die sich durch die Arbeit mit richtigen Schauspielern ergeben, verglichen mit der Arbeit an einem Animationsfilm?
Wenn man mit tollen Schauspielern arbeitet - was bei uns zutraf, da wir wirklich jeden bekommen haben, den wir wollten -, transzendieren diese die Geschichte, die man sich im Vorfeld nur vorgestellt hat, und machen daraus etwas Größeres, sodaß die Geschichte noch komplexer und schöner wird. Denn die Schauspieler bringen jeweils ihr Talent, ihre Sensibilität, ihre Emotionen und eigenen Erfahrungen mit ein. Das ist aber nur mit guten Schauspielern möglich. Wir konnten uns diesbezüglich glücklich schätzen.
Also bereuen Sie im Nachhinein auch nicht die Verfilmung von Huhn mit Pflaumen? Ist alles so gelaufen, wie Sie sich das gewünscht haben?
Ganz genau, ich bereue nichts. Aber ich bereue im allgemeinen nie etwas. Was ich getan habe, habe ich getan. Sicherlich hatte ich zu dem jeweiligen Zeitpunkt gute Gründe dafür. Dieses Mal hatten wir nicht nur Glück mit den Schauspielern, sondern mit dem gesamten Team. Wir waren von sehr talentierten Menschen umgeben. Auch wenn man selber extrem talentiert ist, kann man nicht alles alleine machen. Es muß Menschen um einen geben, denen man Verantwortung abgeben kann, damit sie wiederum Dinge ermöglichen.
Welche Gefühle möchten Sie bei den Zuschauern mit Huhn mit Pflaumen wachrufen, sowohl unter den iranischen als auch unter den Zuschauern im allgemeinen?
Grob gesagt, erzählt der Film eine Liebesgeschichte, ein Melodrama. Aber von einer anderen Perspektive aus gesehen, ist er ebenso ein sehr existentialistischer und intellektueller Film. Keine der Figuren ist von Anfang bis Ende sympathisch, niemand ist heroisch, die Hauptfigur mag ihre Kinder zu Beginn nicht, und das ändert sich auch nicht am Ende. Es gibt kein Gefühl der Erlösung. Der Film beginnt genau so wie er aufhört. Darüber hinaus haben wir eine magische Welt geschaffen, die mehr zur Unterhaltung beiträgt. Wenn man ein so schwerverdauliches Thema behandelt, darf man sich erlauben, dem andere Dinge hinzuzufügen. Ich wollte jedem die Möglichkeit geben, böse zu sein und die Natur des Menschen zu verstehen.
Daneben gibt es eine andere kleine Botschaft: Ich möchte jeden wissen lassen, daß es in einem Land wie dem Iran, über das jeder Vorurteile hat und das jeder nur mit Kopftuch, Bärten, atomaren Waffen, Krieg und Terrorismus in Verbindung bringt, im Jahr 1958 einen Mann gab, der an seiner Liebe zu einer Frau gestorben ist. Es ist wichtig, auch solche Geschichten über den Iran zu erzählen. Die Handlung des Films feiert das Leben. Die Hauptfigur stirbt nach zehn Minuten, danach wird ihr Leben erzählt. Nur im Kino ist es möglich, auch dann noch vom Leben zu erzählen, wenn der Tod schon eingetreten ist. Die Geschichte mahnt uns, unser Leben nicht zu verpassen, und daß wir das tun müssen, was wir tun müssen, solange wir leben, denn wir haben nur dieses eine Leben. Die Geschichte birgt so viele unterschiedliche Dinge in sich.
Allerdings denke ich nicht, daß Filme zwingend eine Botschaft vermitteln müssen. Wenn wir es schaffen, das Publikum für nur anderthalb Stunden zum Träumen zu bringen, dazu, daß sie zur selben Zeit lachen und weinen, wenn wir es schaffen, eine Sensation zu kreieren, ist das für mich ausreichend.
Gibt es eine ideale Publikumsreaktion, die Sie als Filmemacherin glücklich macht?
Ja. Ich bin sehr glücklich, wenn die Zuschauer lachen. Für mich gibt es nichts Besseres als das Lachen. Humor ist meiner Meinung nach das Verstehen des jeweils anderen. In der ganzen Welt weinen wir aus denselben Gründen, aber wir lachen nicht aus denselben Gründen. Es spielt keine Rolle, wo in der Welt man das Bild eines sterbenden Kindes in den Armen seiner Mutter zeigt, überall wird man angesichts dieses Bildes weinen. Aber das Lachen ist eine sehr abstrakte Angelegenheit. Was bringt mich zum Lachen, jemand anderen aber nicht? Wenn Menschen lachen, bringt mich das ebenfalls zum Lachen und macht mich glücklich.
Würden Sie sich eher als einen lustigen oder ernsten Menschen beschreiben?
Beides. Aber Humor hat mit Intelligenz zu tun. Zu ernste Menschen finde ich dumm. Das Leben ist zu kurz, und man kann es nicht zu ernst nehmen. Wir werden alle sterben, also wie ernst kann das Ganze schon sein? Ich verwende Humor im Alltag, denn es ist nicht einfach zu leben, für keinen. Um alles mit Humor betrachten zu können, muß man eine gewisse Distanz wahren und in der Lage sein, eine gewisse Größe anzunehmen. Andererseits kann man über die Dinge nicht lachen. Humor macht uns erwachsen und das Leben einfacher.
Die Hauptfigur in Ihrem Film, Nasser-Ali Khan, liebt eine Frau mit dem Namen ›Iran‹. Die Liebe bleibt unerfüllt für den Rest seines Lebens. Steht diese unerfüllte Liebe für die Situation zwischen Ihnen und Ihrer Heimat, dem Iran? Und wenn ja, was ist nötig, damit diese Liebe sich erfüllt?
Die Allegorie mit der Figur ›Iran‹ ist weniger mit meinem eigenen Leben verbunden als mit der Situation im Iran in den 1950er Jahren. Das war die Zeit, in der die Menschen von Demokratie träumten und glaubten, daß alles möglich sei. Doch dann hat der Putsch durch die Amerikaner alles zerstört, nicht nur im Iran, sondern in der gesamten Region. Der Traum von der Demokratie war plötzlich verschwunden. Menschen wie Saddam Hussein und Baschar al-Assad waren Demokraten, Sozialisten, als sie anfangs an die Macht kamen. Also wieso wurden sie zu Diktatoren? In dieser Region gab es einen Moment in den 1950ern, als jeder dachte, er hätte sein Schicksal in der eigenen Hand. Unglücklicherweise ist es anders gekommen. Die unerfüllte Liebe für die Figur ›Iran‹ steht sowohl für die Hoffnung, die die Hauptfigur verloren hat, als auch für die Hoffnung, die dieses Land damals verloren hat.
Aber gleichzeitig ist sie eine Allegorie für mich und mein eigenes Leben. Sein Musiklehrer sagt zur Hauptfigur Nasser-Ali Khan, einem Geiger: »Sie wird in jeder Note sein, die du spielst.« Genau so ist es mit mir und meiner Heimat: Alles, was ich tue, hat irgendwie mit dem Iran zu tun. Ich habe es mir nicht so ausgesucht. Die Dinge, mit denen ich aufgewachsen bin, sind ein großer Teil von mir. Wenn ein Iraner den Mund aufmacht und nur einen Laut von sich gibt, weiß ich sofort, was er mir sagen will, während ich bei einem Nicht-Iraner meine Zweifel habe. Es ist ein Wissen, das man nur aufgrund der Tatsache hat, daß man irgendwo aufgewachsen ist.
Und ist Ihre Liebe zu Ihrem Heimatland, dem Iran, unerfüllt?
Nein. Es ist nur so, daß ich in den letzten zwölf Jahren nicht im Iran war. Nicht, weil ich nicht einreisen kann, sondern weil ich nicht weiß, ob ich wieder zurückkommen kann. Das ist das Problem. Und im Iran weiß man nie, was passieren wird. Daher empfinde ich viel Nostalgie und Melancholie, aber das ist normal. Ich vermisse die Berge, die Witze, die Sprache, das Essen. Jedes Mal, wenn ich wieder nach Europa umgezogen bin, hat es drei Jahre gedauert, bis ich nur in der Lage war, anderes, nicht-iranisches Essen zu verdauen. Es braucht eine Weile, bis man sich an andere Dinge gewöhnt hat. Es hat nichts mit Nationalismus zu tun. Wenn man eine Pflanze aus ihrer natürlichen Umgebung herausreißt, spielt es keine Rolle, ob man sie auf die bestmögliche Weise ernährt und auf sie Acht gibt, sie ist nichtsdestotrotz woanders aufgewachsen und somit an diesen anderen Ort gewöhnt. So sieht meine Situation aus.
Gleichzeitig finde ich es nicht schön, mich zu beschweren, denn es gibt Menschen, die es im Leben so schwer haben. Die Künstler im Iran zum Beispiel, die nur versuchen können, ihrer Kunst nachzugehen. Wenn eine Person in meiner Situation sich beschwert, was müssen dann erst die anderen sagen? Ich denke, es wäre nicht anständig, mich zu beschweren.
In Ihrem Film gibt es eine sehr schöne Szene, wo Nasser-Ali Khan, die Hauptfigur, seine kleine Tochter hinter die Kulissen eines Puppentheaters führt. Als sie sieht, daß hinter den Puppen Menschenhände stecken, wird sie sehr traurig und desillusioniert. Nicht nur hier, sondern im gesamten Film geht es viel um Phantasie und den Glauben daran. Was bedeutet Ihnen Phantasie?
Die Phantasie sitzt an einer Stelle im Gehirn, wo alles möglich ist. Es gefällt mir, daß es eine Welt gibt, in der wir uns Dinge vorstellen können. Demgegenüber hasse ich Ausdrücke wie »Realpolitik«. Denn was bedeutet Realpolitik? Es bedeutet, daß wir die Welt als schlecht ansehen und daß wir diesen Umstand akzeptieren. Aber es gibt Momente, wo man nicht akzeptieren, sondern sich sagen sollte, daß es noch einen anderen Weg gibt. Und es gibt immer andere Wege. Ich glaube, wir haben zu wenig Fantasie. Wir denken immer, daß alles konkret sein muß. Aber es gibt einen Unterschied zwischen konkret und pragmatisch. Die Phantasie ist viel pragmatischer als konkrete Dinge es sind. Während man sich nur etwas vorstellt, sagt man sich bereits, daß es möglich ist. Wenn es nicht einen Mann gegeben hätte, der daran glaubte, daß er fliegen kann, gäbe es keine Flugzeuge. Wir können also nur die ganze Welt bereisen, weil es da einmal diesen einen Narr gegeben hat. Demnach brauchen wir Phantasie.
Glauben Sie, die Menschen im Iran haben Phantasie nötiger als Menschen, die nicht unter einer Diktatur leben?
Ja, absolut! Wenn man unter einem unterdrückenden Regime lebt, braucht man eine Welt, in die man sich flüchten kann. Die Iraner haben viel Phantasie, aber auch viel Humor. Nur deshalb können sie überleben. Als ich im Iran lebte, sind schlimme Dinge passiert, aber daneben gab es viele Witze. Auf diese Weise nehmen die Iraner Distanz zu den Ereignissen, um weitermachen zu können. Wir dürfen nicht vergessen, daß Kriege und das Gefühl des Angegriffenwerdens immer ein Teil der iranischen Geschichte waren. Vielleicht gibt es im Iran deshalb so viel Poesie, sie hilft den Menschen, ihr Leben ins Gleichgewicht zu bringen.
Können Sie sich vorstellen, etwas zu machen, ob nun einen Comic oder einen Film oder eine andere künstlerische Arbeit, die nichts mit dem Iran zu tun hat?
Wenn ich eine Geschichte schreibe, spielt sie im Iran, denn ich muß an das glauben, was ich sage. Die Dinge, die in Frankreich passieren, wo ich nun schon seit langer Zeit lebe, verstehe ich natürlich alle, intellektuell gesehen, aber nicht auf emotionaler Ebene. Ich begreife sie nicht emotional, weil ich nicht mit ihnen aufgewachsen bin. Auf der anderen Seite habe ich schon Dinge gemacht, die keinen Bezug zum Iran haben, wie die Gestaltung eines Album-Covers von Iggy Pop zum Beispiel. Und sicher werde ich es wieder tun. Meine Geschichten aber werden immer einen Bezug zum Iran haben.
Zuerst kannte man sie als Comiczeichnerin, nun sind Sie auch als Filmemacherin bekannt. Geht es letztlich darum, die Idee, die Sie haben, in irgendeiner künstlerischen Art umzusetzen, oder kommt es eher auf den künstlerischen Weg an, den Sie wählen?
Ich bin allem gegenüber aufgeschlossen. Momentan bereite ich eine Ausstellung mit Bildern von mir für nächstes Jahr vor. Eines Tages werde ich vielleicht Musik machen. Für mich gibt es keine Grenzen zwischen den unterschiedlichen Künsten. Wenn man sich gerne ausdrückt, kann jeder Weg gut sein, und ich würde gern alles ausprobieren. Hätte ich die Absicht, richtig reich zu werden, müßte ich nur »Persepolis 5« über meine Erfahrungen in Europa schreiben, und es wäre ein Hit. Ich würde Millionen Exemplare verkaufen. Aber das interessiert mich nicht.
»Persepolis« diente nicht dazu, meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich habe mich als Charakter in die Geschichte eingebaut, um zu beschreiben, was um mich herum passierte. Wenn ich mich selbst nicht als Figur eingebaut hätte, wäre daraus ein politisches, soziologisches oder historisches Statement geworden. Ich erzähle darin von meinen persönlichen Erfahrungen, doch im Grunde geht es um mein Land. In meinem Leben ereignen sich manchmal wirklich aufregende Dinge. Ich bin mir sicher, fiele ein Stein vom Himmel, er würde auf meinem Kopf landen. Aber ich habe nicht das Bedürfnis, von meinem Privatleben zu erzählen, auch wenn es karrieretechnisch der beste Plan wäre.
Jetzt bin ich über 40 und kann vielleicht noch weitere 30 Jahre arbeiten. Jedes Projekt beansprucht zwischen ein und drei Jahren, also maximal zehn Prozent meiner verbleibenden Zeit. Wenn ich also etwas tue, was so viel meiner Zeit beansprucht, muß ich wirklich davon überzeugt sein. Ansonsten wäre ich traurig, und ich bin nicht gerne traurig.
Da es für Sie bei der künstlerischen Ausdrucksweise keine Grenzen gibt, was motiviert Sie? Entstehen Ihre Ideen spontan und unbewußt oder ist es eher so, daß Sie langgehegte Ideen umsetzen?
Es gibt nichts Spezielles, was ich schon immer machen wollte. Ich probiere gerne aus, aber im Vorfeld weiß ich nicht, was am Ende dabei rauskommt. Es kommt vor, daß ich durch Zufall jemandem begegne und mir plötzlich denke: Oh cool! Ich möchte das gleiche tun! Die Dinge passieren einfach. Zu Hause bin ich nie gelangweilt. Ich habe immer etwas zu tun und das brauche ich auch. Ich bin ein glücklicher Mensch. Wenn ich morgens aufwache, bin ich froh, am Leben zu sein, und ich frage mich: Was kann ich heute machen? Und es gibt so vieles, das man an einem Tag machen kann. Ich mag fast alles. Zum Beispiel schaue ich viele Dokumentationen über Chemie an, weil ich mich auch dafür interessiere. Wenn ich mit der Arbeit an meinen Bildern fertig bin, lese ich in meinen Chemiebüchern und vielleicht werde ich in ein paar Jahren an der Uni Chemie studieren. Ich lerne gern dazu, das macht mich glücklich. Denn im Grunde ist alles sinnlos, eines Tages werde ich sterben und niemand wird sich mehr für meine Bücher interessieren.
Voltaire oder Goethe wird man für viele Jahre lesen. Aber ich bin weder Voltaire noch Goethe. Ich weiß genau, wer ich bin. Vielleicht mache ich einen Film, über den die Menschen noch in zehn, maximal in 100 Jahren sprechen. Aber wenn ich tot bin, dreht sich die Welt weiter. Im Iran sagt man: Es ist nicht gut, als Affe geboren zu werden und als Kuh zu sterben. Ich bin als Affe geboren, aber ich hoffe, daß ich als menschliches Wesen sterben werde. Wenn ich ein bißchen weniger ignorant sein kann – auch wenn es letztendlich umsonst ist – ist es immer noch etwas und somit besser als nichts.
Als Sie in unterschiedlichen Interviews gefragt worden sind, ob die Kultur die Situation im Iran verändern könne, haben Sie nicht immer die gleiche Antwort gegeben. Wenn ich Sie nun erneut frage: Welche Rolle kann die Kultur in Bezug auf die Situation der Menschen im Iran spielen?
Wenn man die Kultur und die diversen Künste aus einem Land verbannt, bleibt nichts mehr übrig. Die Kultur ist sehr wichtig, aber die wirtschaftliche Situation steht an erster Stelle. Denken wir an Deutschland: In der Nazizeit waren die Deutschen ein so intellektuelles Volk, Goebbels beispielsweise hatte einen Doktor in Philosophie. Aber Deutschland war damals arm. Wenn die Menschen aus finanziellen Gründen Hunger leiden, kann man ihnen mit Poesie nicht weiterhelfen, das ist unmöglich. Vor allem anderen ist es notwendig, daß jeder ein Minimum an Lebensqualität hat.
Im nächsten Schritt aber geht es natürlich um die Kulturvermittlung. Die Menschen glauben, Kultur bedeute, auf tolle Partys zu gehen und über die letzten Filme von Haneke und Cronenberg zu sprechen. Was mich angeht, ändert es allein schon mein Leben, wenn ich ein Buch lese. Die Lektüre ändert meine Perspektive, ich werde zu jemand anderem und dadurch mache ich im Leben Fortschritte. Wenn ich Dostojewskij lese, denke ich, die Russen sind genau so wie ich. Kultur ist mehr als iPhone, iPad und fucking Facebook. Die Kultur kann die Situation der Menschen verändern, nicht nur im Iran, sondern überall auf der Welt.
Die größte Veränderung, die sich im Iran ereignet, ist der kulturelle Wandel und der Wandel der Traditionen. Diese Veränderungen kommen aus dem tiefen Inneren, und das gibt mir Hoffnung. Als die Roten Khmer Kambodscha besetzt haben, haben sie als erstes alles Kinematographische zerstört, was bis dato in Kambodscha produziert worden war, unter dem Vorwand, daß es zu verwestlicht sei. Sie haben das Kino in Kambodscha getötet. Und was für eine Situation haben wir dort heute? Die Kambodschaner schauen nur Blockbuster. Nun müssen sie all das zerstörte Material rekonstruieren, um den Punkt zu erreichen, an dem sie vorher einmal waren. Es ist kein Zufall, daß jede Diktatur als erstes gegen die Intellektuellen vorgeht.
2012-01-04 14:28