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Roy Andersson

Blindes Verständnis für die Plansequenz: Roy Andersson (© Arsen Airapetian)

Man is man's delight

Von Zora Rux Roy Andersson ist für seine Langfilme Songs from the second floor und Das jüngste Gewitter bekannt. Beide Filme bestehen ausschließlich aus Plansequenzen und der Dreh dauerte jeweils drei bis vier Jahre. Jedes Bild wird im Studio aufgebaut und die Szene parallel geprobt, bis ihm alles gefällt. Dann erst wird an einem Tag bis spät in die Nacht gedreht, meistens 30 bis 50 Takes. Wenn er ein paar Tage später beschließt, daß es nicht perfekt war – oder auch zu perfekt, dazu später mehr – wird noch mal gedreht. Außerdem hat Roy Andersson aber auch ca. 300 Werbefilme gemacht, durch die es ihm möglich war, ein Haus in Stockholm zu seiner eigenen kleinen Filmfabrik mit Studios, Fundus, Schnittraum und Kino auszubauen. Zur Zeit bereitet er den dritten Film seiner Trilogie vor, der voraussichtlich 2014 in den deutschen Kinos laufen wird.

Dein neuer Film heißt im Englischen A Pigeon on a branch – reflecting on existence. Woher kommt der Titel deines neuen Films?

Die Taube sieht sich selbst nicht als einen wichtigen Vogel an, besonders die Stadttaube. Deshalb nenne ich den Film gerne »Eine Taube dachte« und die Menschen wundern sich: Was denkt eine Taube? Und im Film wird es eine Szene mit einem zehnjährigen Jungen, vielleicht mit Down Syndrom, geben, der sagt: »Oh, ich glaube, die Taube denkt drüber nach, eine Taube zu sein.«

Es ist nicht leicht zu sagen, worum es in dem Film geht.

Das ist es in der Tat nicht, sogar für mich. Man ist es so gewöhnt, daß man eine gewöhnliche Story hat und dieser Film ist nicht so aufgebaut. Er ist eher eine Collage verschiedener menschlicher Schicksale, menschlicher Situationen. Ich bin darauf gekommen, daß es ein reicherer Film wird, wenn man die lineare Erzählung aufgibt. Die kann auch gut sein, ich verurteile das gar nicht. Aber ich bekomme einen reicheren Film, wenn ich mit einem Kaleidoskop über die Existenz arbeite.

Wann und wie hast du diesen Stil entwickelt?

Eigentlich hatte ich den schon vom allerersten Anfang an. Als ich auf der Filmhochschule war, war ich mehr an Übungen interessiert, mit denen ich Stimmungen erzeugen konnte, als an einer Story. Die Geschichte ist nicht das, an was man sich erinnert von einem Film, sondern die »Magic Moments«. Das können kurze Augenblicke sein. Zum Beispiel der Moment in dem Film Augenblick der Warheit von Rosi, in dem der berühmte Stierkämpfer das einfache Mädchen Wasser trinken sieht. Oder auch die Szene im Leihhaus in Fahrraddiebe, in der man plötzlich sieht, daß es allen gleich geht, alle müssen ins Leihhaus.

Normalerweise fängst du an zu drehen und entwirfst parallel Szenen, es gibt also gar kein richtiges Drehbuch. Warum und wie hast du diese Methode entwickelt?

Ein Drehbuch ist keine Garantie für einen guten Film. Es kommt auf die Umsetzung und Inszenierung an. Ich glaube, das ist ein großer Fehler im Filmgewerbe heutzutage. Die Menschen lesen Drehbücher und reden über Finanzierung, aber ein Drehbuch sagt nicht viel aus. Es ist das Talent, mit dem man das Drehbuch in Szene setzt.

Ich bin überzeugt von einer sehr wichtigen Sache, nämlich: Ein Dialogsatz hängt davon ab, in welchem Raum er gesagt wird. Der gleiche Satz kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden, abhängig davon, in welchem Raum er gesagt wird und wie weit er von der Kamera entfernt ist. Der Raum und der Dialog hängen zusammen. Deshalb mache ich Skizzen zu jeder Szene. Es ist eine Art von Inszenierung, diese Skizzen zu machen.

Mit Eine schwedische Liebesgeschichte hast du den klassischen Erzählstil perfektioniert, anschließend hast du einen komplett neuen Stil begründet. Wirst du deinen Stil nach der Trilogie wieder komplett verändern?

Delikate Frage. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Ich kann nur sagen, daß es keinen Langfilm direkt nach der Trilogie geben wird. Vielleicht einen Kurzfilm. Oder: ein Buch.

Wovon würde das Buch handeln?

Es würde von einem Schuldeneintreiber handeln. Oder ich mache eine Recherche über die Möglichkeit, Firmen, die nicht gut laufen, billig zu kaufen, auszubauen und teuer zu verkaufen. Ich weiß noch nicht genau, was es wird. Als ich jünger war, habe ich viel Fiktion gelesen, aber jetzt, wo ich älter werde, finde ich Non-Fiktion interessanter. Essays können sehr gut sein, ganz ohne Story. Aber ich habe dieses Romanprojekt über den Schuldeneintreiber nicht aufgegeben.

Wenn man diese drei Filme als Trilogie betrachtet, hat man das Gefühl, Songs ist düsterer, hat aber eine Story, Das jüngste Gewitter ist leichter, aber eher eine Collage. Gibt es da eine Entwicklung? Wie wird der dritte Film sein?

Der wird wohl der leichteste von allen sein, sogar leichter als Das jüngste Gewitter. Besonders, was die Komik angeht, er wird fast ein bißchen verrückt sein. Nicht unbedingt weniger Story, es gibt da zwei Typen, die wir mehrere Male während des Films treffen. Sie helfen, den Film als eine Story zu konstruieren, gewissermaßen. Auf eine Art ist es eine Geschichte, selbst wenn es keine konventionelle Geschichte ist.

War es von Anfang an gedacht, daß es eine Trilogie wird?

Nein, das war es nicht. Ich bin fasziniert von Trilogien, viele meiner großen Leseerlebnisse der Literatur sind Trilogien, eine der fantastischsten ist die Trilogie über den finnischen Bürgerkrieg von Väino Linna (»Hier unter dem Polarstern«, 1959–62). Er sollte eigentlich einen Nobelpreis haben. Er war Elektriker, saß abends Zuhause und schrieb eine Trilogie über den finnischen Bürgerkrieg. Oder auch die Trilogie von Vilhelm Moberg »Bauern ziehen übers Meer« (1949). Ich habe einfach nur einen Film und dann den nächsten gemacht. Aber als wir Das jüngste Gewitter gemacht hatten, fühlte es sich natürlich an, über einen dritten nachzudenken. Aber es fühlt sich komplett falsch an, einen vierten zu machen.

Was verbindet die drei Filme?

Das ist die Stimmung. Auch wenn sie ein bißchen unterschiedlich sind, sind sie sich doch sehr nahe, Songs und Das jüngste Gewitter. Und ich glaube, wenn der nächste Film rauskommt, wird klar, daß er ein Teil der Trilogie ist, obwohl wir die Technik geändert haben.

Es war angedacht, daß dein neuer Film farbenfroher sein soll.

Ich hatte das geplant. Es gibt eine lustige Geschichte über Giacometti, der, der diese langen, dünnen Skulpturen gemacht hat. Die Menschen beschwerten sich, daß er immer so lange, dünne Personen macht und fragten, ob er nicht dickere Menschen machen könne, und Giacometti: »Ja, ich versuchs.« Aber sie waren immer noch lang und dünn. Er fand sie unecht, wenn er sie nicht so machte, wie er sie machte. Genau das fühle ich auch mit meiner Arbeit. »Kannst du nicht mehr Farben benutzen, es weniger depressiv machen?« Und ich: »Ich versuch's.« Und alle: »Oh, es ist dasselbe.«

Warum sind die Menschen in deinen Filmen oft so dick?

Das ist eine Art Vaterfigur, der Archetyp einer Vaterfigur für mich ist ein dicker Vater. Dominant, nicht böse, aber manchmal dominierend bis zur Dummheit.

Du zeigst in deinen Filmen oft Menschen aus Vororten, selbst wohnst und arbeitest du auf Östermalm (vergleichbar mit Charlottenburg in Berlin). Wie kommst du auf diese Menschen?

Eigentlich habe ich mit den Menschen aus Vororten am meisten zu tun. Ich glaube, daß du deine Sicht auf die Welt sehr früh in deinem Leben bildest und den Rest deines Lebens behältst. Meine Erfahrungen im Leben vom Babyalter bis zum Ende des Gymnasiums, also mit 18, 19 Jahren, geben genug Stoff für hunderte von Filmen. Die Zeit danach natürlich auch noch.

Wie war diese Zeit für dich? Wie bist du aufgewachsen?

Wir waren eine typische schwedische Arbeiterfamilie: Vier Brüder, sehr, sehr kleine Wohnung, nur eine Küche und ein Zimmer, kein warmes Wasser, Außentoilette. Mein Vater hatte Alkoholprobleme, die er später besiegte. Es war normal für mich. Meine Eltern waren typische Landleute, die in die Stadt zogen, um Jobs zu bekommen, ebenso meine Onkel und Tanten und die Eltern meiner Freunde. Sie konnten schon lesen, aber sie waren nur sechs Jahre in der Schule gewesen. Damals wurde das politische System in Schweden geändert, es wurde ein Sozialstaat. Meine Generation bekam die Möglichkeit zu studieren, meine Eltern hatten diese nicht gehabt.

Wie kommt es, daß du so viele Kunstbücher hast?

Ich wollte Künstler werden. Zuallererst wollte ich Ingenieur werden, ich dachte, ich hätte das Talent, Dinge zu erfinden. Aber dann habe ich viel gute Literatur gelesen. Zuhause hatten wir keine gute Literatur, aber in der Schule. Schulische Ausflüge zu Museen haben mich auch der Kunst näher gebracht. Ich bekam das Gefühl,Talent irgendeiner Art zu haben: Zum Zeichnen, zum Schreiben und sogar zum Musik machen. Mit 15 wollte ich also Schriftsteller werden, aber ich war mir nicht ganz sicher, weil ich auch malen und Musik machen wollte. Und schließlich habe ich sehr viele gute Filme gesehen zu dieser Zeit. Ich glaube, es war die wichtigste europäische Filmperiode: Neorealismus, Nouvelle Vague, die tschechische Welle, die russische Welle, die polnische Welle. Es war keine Frage, als ich diese guten Filme sah: Jetzt kann ich alle meine Interessen kombinieren, Malen, Musik, Schreiben. Und jetzt bin ich hier.

Inzwischen gibt es den Begriff Roy-Andersson-Stil. Wie hast du zu diesem Stil gefunden?

Mit den weißen Gesichtern hat mir Fellini geholfen und auch der Zirkusclown und das Nō- Theater aus Japan, sie spielen klassisches japanisches Theater mit weißen Masken, sehr beeindruckend. Ich hab gerade von dieser fantastischen europäischen Filmperiode gesprochen. Es war so überraschend, daß ein Film mit ganz gewöhnlichen Menschen so gut und lustig sein konnte. Die Menschen sahen nicht gut aus, es ging überhaupt nicht um Mode oder Aussehen, man sah stattdessen einen dicken und dominanten Vater. Das war sehr menschlich und warm und bestärkte mich, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich fühlte mich zuversichtlich und dachte, daß ich das auch machen könne. Und dann gab es noch einen Werbefilm für eine amerikanische Limonade, der mich sehr beeindruckt und beeinflußt hat. Ein 35jähriger Mann lebt zuhause bei seiner Mutter, ohne Freunde, ohne Freundin, in einer sehr ärmlichen Wohnung. Die Mutter gibt ihm eine Limonade und der Mann lächelt. Es war ein sehr mutiger Werbefilm. Ich sah diesen Film, kurz bevor ich anfing, selbst Werbefilme zu machen.

Wie hast du mit Plansequenzen angefangen?

Mit Plansequenzen habe ich angefangen, als ich Werbefilme für die Versicherungsfirma Trygg Hansa machte. Sie handeln fast alle von kleinen Unfällen. Was ist der Grund für einen Unfall? Ich denke, es ist die Schwerkraft. Die Schwerkraft gibt der Menschheit sehr, sehr viele kleine und große Unfälle. Um die Macht der Schwerkraft zu beschreiben, muß man eine Situation erschaffen, in der Schwerkraft dieselbe Rolle spielt wie in der Wirklichkeit. Sobald du anfängst zu schneiden und aufzulösen, zerstörst du die Geschichte von der Macht der Schwerkraft. Daher habe ich angefangen, eine Plansequenz zu machen. Das hat mich von den Vorteilen der Plansequenz überzeugt.

Gab es einen Werbefilm, der der erste war in deinem Stil?

Der erste war tatsächlich der für die Sozialdemokraten mit dem Text: »Warum sollten wir uns um andere kümmern?«

Hast du einen Lieblingswerbefilm?

Ein Mann in den 30ern liegt in einem Babybett in einem sehr winzigen Raum, es ist eigentlich gar kein Raum, sondern eher ein Zwischenraum zwischen zwei Räumen. Der Mann hat einen Bart und es ist sein Geburtstag. Die Eltern kommen singend zu ihm und der Mann sagt: »Ich halte das nicht mehr aus.« Und der Vater: »Was ist los?« Und die Mutter sagt: »Oh, Kenneth.« Dann kommt der Slogan, der ist sehr gut, er faßt den ganzen Film zusammen: »Start to save for a flat in time.« Es war ein großer Erfolg. Alle wollten eine Wohnung haben »in time«.

Warum meinst du wollen Menschen Filme schauen?

Es ist eine sehr simple und direkte Art zu kommunizieren. Das gleiche gilt für Bücher. Aber leider ist die intellektuelle Qualität von Filmen sehr viel schlechter als die von Büchern. Schuld daran ist nicht das Medium, sondern sind die Menschen, die die Filme schauen. Hinter all dem steht ein Zitat, das ich auch in der Synopsis von Das jüngste Gewitter verwendet habe. Ich zitierte eine Formulierung aus der altisländischen Edda, der Sammlung von Wissen, aus dem Götter- und Heldenlied Hávamál: »Man is man's delight.« Der Mensch ist des Menschen Freude, nicht nur im positiven Sinne, auch: Der Mensch ist des Menschen Horror, der Mensch ist des Menschen Enttäuschung. Wir sind immer interessiert an anderen Menschen, daran, was sie machen, was sie denken. Daher treffen wir Menschen, lesen über Menschen, gucken Filme und sehen uns Malerei an.

Schaust du selbst Filme?

Nicht mehr so häufig. Ich geh gerne ins Kino, aber es gibt nicht so viele gute Filme heutzutage. Die meisten sind mir zu dumm.

Was gefällt dir am besten am Filmemachen?

Ich mag das Soziale am Filmemachen, es ist nicht so einsam, verglichen mit dem Schriftstellerberuf.

Warum machst du Film? Was ist das Wichtigste?

Ich mag eine Formulierung von Bresson sehr: »Mach das sichtbar, was ohne dich nie wahrgenommen worden wäre.« Ich will etwas machen, was noch nie vorher gemacht wurde. Und ich mag etwas sehen, was ich nie vorher gesehen habe. Ich mag die zwei Skelette, die um einen eingelegten Hering kämpfen, von James Ensor. Ich kann nicht erklären, warum, aber ich bin froh, das Gemälde gesehen zu haben. Das reicht. Ich werde es nie vergessen. Und ich bin froh zu merken, daß immer noch Platz in meinem Kopf ist, um etwas dort aufzuheben.

Das Gemälde von Ensor ist sehr absurd. Findest du deine Filme absurd?

Ich denke schon. Verglichen mit normalen Filmen sind meine Filme absurd.

Realitätstreue ist dir beim Bauen deiner Sets sehr wichtig, trotzdem sind deine Filme nicht direkt realistisch.

Es ist ein Paradoxon, das zu sagen, aber es ist kondensierter Realismus. Deshalb beziehe ich mich häufig auf Fellini. Ohne Fellini wäre ich nicht zu dem fähig, was ich hier mache. Ich zitiere manchmal Matisse: Mach alles weg, was für das Bild nicht notwendig ist, und behalte nur, was du brauchst.

Also ist dir Realismus nicht so wichtig?

Nein, es lenkt ab, zu viele Details zu haben. Deshalb kann ich nicht draußen drehen. Da sind zu viele Sachen, die ich gerne wegnehmen würde: Autos, Mauern, Häuser und all diese Schilder, die Farben der Busse, die Farben der Kleider der Menschen. Ich bevorzuge monochrome Farben. Zu viele Details und zu viele Farben lenken ab.

Gibt es eine Botschaft in deinen Filmen? Was hältst du generell von einer Botschaft in Filmen?

Ich mag das nicht. Didaktik war in den 1960er und 70er Jahren sehr populär: Du sollst überdeutlich sein, zeigen, was gut und was schlecht ist. Wenn ich eine Botschaft hätte, würde ich es vorziehen, sie gut zu verstecken. Ich habe noch nie einen Film mit einer deutlich ausgesprochenen Botschaft gesehen, der gut war. Wenn du eine Auflösung, ein Grande Finale, am Ende des Films hast, ist es gut für die Zuschauer. Sie mögen das, weil sie dann ihre eigenen Probleme und ihre eigene Traurigkeit vergessen können. Ich möchte nicht, daß die Menschen diese Auflösung sehen, ich möchte, daß sie ihre Neugierde nach Filmende behalten. Der Film bleibt länger in den Gedanken der Menschen, wenn du ihnen keine Zusammenfassung oder Auflösung servierst.

Du ziehst es vor, das Publikum die Botschaft selbst entdecken zu lassen?

Ja, zum Beispiel der Film Fahrraddiebe: Der Film handelt von den Unterschieden von Reich und Arm. Es wird deutlich in der Szene, in der die Menschen zum Leihhaus gehen, zusammen mit Tausenden von anderen Menschen. Das ist eine der politischsten Szenen, die ich je gesehen habe. Da gibt es eine Botschaft, und zwar, daß die Gesellschaft unfair ist. Das gibt es nicht oft, daß man eine gutformulierte Botschaft sieht.

Heute hatte ich ein Gefühl. Ich war draußen und aß eine Wurst. Ich sah all die Leute, noch braungebrannt von den Sommerferien. Sie haben in den Ferien zu viel Geld ausgegeben und gleichzeitig sind sie sehr hochnäsig. Diese Generation mit Tattoos und Piercings, 35, 40 Jahre alt, wird die bitterste und unglücklichste Generation von 50jährigen sein, weil sie ohne alle Bemühungen und Ambitionen, eine faire Gesellschaft zu schaffen, aufgewachsen sind. Sie sind dazu erzogen worden, egoistisch zu sein.

Wie kommt es, daß diese Generation so ist? Was ist der Unterschied zu deiner Generation?

Sie hatten alles, was ich nicht hatte und sie sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie gucken schlechtes Fernsehen, essen schlecht, verbringen ihr Leben, nur um unterhalten zu werden. Das Leben vergeht und plötzlich bist du 50 und hast Tattoos. Es gibt ein sehr gutes altschwedisches Wort: Fasör. Du hast Talent für den Effekt, du kannst die technischen Möglichkeiten ausnutzen, aber erreichst keinen tieferen Wert.

Laß uns über die tieferen Werte sprechen. Wenn man deine Filme anguckt, kriegt man das Gefühl, daß da tiefere Werte sind, irgendwas Größeres, aber was ist das?

Ein tieferer Wert ist zum Beispiel Selbstvertrauen. Es gibt ein sehr gutes Wort, das heutzutage ein bißchen falsch benutzt wird, und das ist »demütig«. Es ist eine sehr schöne innere Einstellung. Deshalb sind die Menschen so unglücklich: Sie sind aufgewachsen mit einem Fehlen von Demut um sie herum. Es ist eine uralte Frage: Warum ist der Mensch unglücklich? Der Buddhismus sagt, die Antwort sei, daß der Mensch habgierig ist. Das Gefühl der Unzulänglichkeit trägt auch dazu bei, daß Menschen sich traurig, unglücklich, besorgt fühlen und kein Vertrauen haben. Meine älteste Tochter ist Psychologin. Sie hatte einen Klienten, etwa 45 Jahre alt, in sehr hoher Position in einer Firma. Er kam zu ihr, weil er ständig dieses Gefühl hatte, unzureichend zu sein, er wartete also stets auf den Moment, entdeckt zu werden. Er hatte keinen Grund, sich Sorgen zu machen, hatte aber trotzdem immer dieses Gefühl. Eine Szene, die davon handelt, war vor einem halben Jahr im Drehbuch, ich glaube, ich nehme sie wieder auf.

Ich würde gerne wissen, was deine Meinung zu Klischees ist.

Klischee geht nicht. Das ist das schlimmste, was man machen kann. Das ist beinahe der Gegenpol zur Kunst. Wenn du zu oberflächlich bist, keine tieferen Werte hast, aber versuchst, dich so zu verhalten, als wenn du sie hättest, dann wirst du immer Klischees machen.

Wenn du versuchst, einen Gedanken auszudrücken, gibt es aber auch das Risiko, zu unklar zu sein.

Man muß die Balance finden. Lieber das Risiko eingehen, Klischees zu machen, als unklar zu sein.

Du drehst fast ausschließlich mit Laiendarstellern. Warum?

Es wird reicher mit Menschen, die man noch nie gesehen hat. Es ist nicht so, daß ich Schauspieler hassen würde, ich hab mit vielen gearbeitet, aber die Authentizität ist sehr wichtig und professionelle Schauspieler haben damit Probleme. Ich kann das sogar verstehen. Wenn sie ihren Selbstschutz abgeben, würden sie auch ihre Professionalität verlieren, denken sie. Es scheint ihnen nicht genug, einfach zu sein, sie denken, sie würden dann nicht arbeiten. Aber ich will diese Authentizität haben. Manche Schauspieler haben sie von Natur aus, aber das sind sehr wenige. Rod Steiger zum Beispiel, auch De Niro am Anfang seiner Karriere.

Wie findest du deine Darsteller?

Auf der Straße, an der Tankstelle, in Bars, Restaurants. Meiner Meinung nach kann jeder mit ein bißchen Hilfe ein Schauspieler sein, wir spielen im Alltag sowieso andauernd.

Du machst 30 bis 50 Takes pro Plansequenz. Ist das nicht auch eine Methode, um die Darsteller müde zu machen?

Ja, das hängt mit der Selbstkontrolle zusammen. Die Darsteller verlieren die Selbstkontrolle immer mehr, je müder sie werden, und werden damit authentischer. Oft ist es gut, den Darsteller etwas machen zu lassen, während er einen Satz sagt, ihn zum Beispiel etwas Schweres tragen zu lassen. Er vergißt dadurch seine Selbstkontrolle und die Dialoge werden besser. Das ist ein bißchen zynisch, aber manchmal muß man zynisch sein, um gute Ergebnisse zu erzielen. Nicht nur für dich selbst, sondern auch für das Publikum und sogar für die Schauspieler; anschließend sind sie oft sehr stolz und glücklich, weil sie in einem guten Film sind.

Glaubst du an erste Takes?

Ja, aber das gibt es nicht oft. Bei einem meiner besten Werbefilme nahmen wir ein erstes Take. Wir machten 60 Takes, ich habe alle entwickelt, aber nur 50 Prozent kopiert. Zuerst habe ich kein gutes Take gefunden, dann habe ich alle kopiert und unter denen war dann das allererste Take das beste. Es ist der Werbefilm im Flugzeug, in dem das Personal rausspringt.

Normalerweise dreht man jede Einstellung solange, bis der Regisseur zufrieden ist. Du sagst oft: »Wir haben schon ein gutes Take, laßt uns nur noch vier weitere machen.« Es hört sich nach einer Methode an.

Selbst wenn du denkst, daß da ein sehr gutes Take ist, kann es auch noch ein anderes sehr gutes geben. Wenn die Darsteller hören: »Wir haben schon ein gutes Take, wir können nach Hause gehen, aber zur Sicherheit machen wir noch vier Takes«, dann sind sie relaxt und das macht sie auch natürlicher. Davon profitiere ich.

Das ist also eine Methode?

Das ist Psychologie.

Wie hat sich deine Art mit Darstellern zu arbeiten verändert seit Eine schwedische Liebesgeschichte?

Tatsächlich nicht so sehr. Das war eine ganz andere Umgebung. Aber der Umgang mit Darstellern ist fast gleich geblieben.

Wie hast du die beiden Hauptdarsteller aus Eine schwedische Liebesgeschichte ausgewählt? Waren sie Schauspieler?

Der Junge hatte schon ein bißchen gespielt. Das Mädchen gar nicht, ich sah sie auf einem Klassenfoto und mir fielen ihre schönen Augen auf.

Drehst du unterschiedliche Varianten der gleichen Szene?

Das mache ich, bevor ich drehe, mit ganz vielen Tests. Einmal haben wir ein paar unterschiedliche Varianten der gleichen Szene gedreht, aber das passiert nicht oft. Wir machten drei unterschiedliche Varianten, die wir alle vorher getestet haben. Wir waren uns nicht sicher, welche die beste ist, die eine ist vielleicht zu sentimental, die andere zu absurd.

Bevor ich mit der Plansequenztechnik angefangen habe, habe ich wie andere Filmemacher gedreht: Totale, Nahaufnahme, von der einen Seite, von der anderen Seite, um es zusammenzuschneiden. Aber die Zeiten sind vorbei. Ich hasse es, in ein und demselben Dialog den Bildausschnitt zu ändern, mitten im Gespräch auf einmal in eine Nahaufnahme zu springen. Du verlierst etwas, wenn du das machst.

Du magst Nahaufnahmen nicht. Warum?

Eine Nahaufnahme verglichen mit einer Totalen: In einer Totalen sind mehr Details, in einer Nahaufnahme sind weniger Sachen zu entdecken. Heutzutage haben wir diese fantastische Auflösung, du kannst sehr weite Totalen haben und du siehst immer noch, was eine Person denkt. Es ist eine Schande, diese technischen Möglichkeiten nicht zu benutzen. Ich glaube, Menschen drehen Nahaufnahmen, weil sie denken, damit die Szene im Schnitt retten zu können. Sie haben die Szene nicht unter Kontrolle, daher müssen sie sie von allen Seiten drehen. Ich ziehe es vor, alles in einer Einstellung zu drehen.

Hitchcock sagte, daß man den Raum verschwende, wenn man den Raum von Anfang an zeige.

Ja, das ist eine Art zu denken, die damals möglich war. Auf mich wirkt das ein bißchen banal: Überraschungsszenen im selben Raum. Ich ziehe es vor, ehrlich und offen zu sein. Kein Schwenk und plötzlich siehst du den Mörder hinter dem Vorhang. Wenn du einen Mörder hinter dem Vorhang hast, dann sollte er von Anfang an in der Szene sein.

Wie hast du die Sexszenen gemacht?

Es war kein großes Problem.

Hatten die Darsteller keine Angst davor?

Doch. Aber die Frau in Das jüngste Gewitter wollte das sogar machen, sie ist ein bißchen exhibitionistisch. Sie hat in vielen meiner Werbefilme und Szenen mitgespielt, daher kannte ich sie gut und erzählte ihr von der Szene. Ich nenne die Szene »Diskussion über Fonds«, da er in beiden Fonds verloren hat und ihr beim Sex davon erzählt.

Jetzt, wo du darüber redest, scheint es gar keinen großen Unterschied zu einer gewöhnlichen Szene gegeben zu haben.

Doch schon.

Hattest du ein kleineres Team?

Nein, hatten wir nicht mal. Es war so natürlich für die Darsteller, die Szene zu spielen. Ich war am ehesten der Schüchternste. Es gab überhaupt kein Problem mit den beiden, da sie auch die Komik in der Szene sahen. Früher gab es ein Symbol für einen Kapitalisten: Eine Zigarre, ein besonderes Jackett, Goldringe, ein Spekulant. Die größten Spekulanten heutzutage sind die Versicherungsfirmen. Das Ergebnis ist, daß sie keine Verantwortung für das Land übernehmen, sondern nur für ihre Versicherungsfirma. Sie zögern nicht, Geld in andere Länder zu bringen. Das ist ein großes Problem überall auf der Welt und ein bedeutender Grund hinter der ökonomischen Situation. Spekulanten sind heutzutage keine dicken Männer mit Zigarren, es sind die Versicherungen. Das ist traurig und auch hoffnungslos.

Viele Regisseure beklagen sich über Zeitmangel. Du hast so viel Zeit wie du willst, wenn du einen Film machst. Das scheint ein großer Vorteil zu sein, gibt es auch einen Nachteil?

Bis jetzt habe ich noch keinen gesehen. Ich arbeite gerne so, wie ich arbeite. Ich höre nicht auf, bevor ich ein gutes Ergebnis bekomme. In meinem Alter kann ich keine Kompromisse machen oder Schlechtes produzieren. Manchmal sagen Menschen zu mir: Wie kannst du an einem einzigen Film vier Jahre arbeiten? Aber guck mal hier, Ilja Repin, einer der besten Maler der Welt. Dieses Gemälde hier: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief (1880-1891). Er hat daran elf Jahre gearbeitet. Er hat sehr viele Tests gemacht. 2011-11-16 17:11

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