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Matthew Modine

Er hatte sie alle

Von Nikolaj Nikitin, Oliver Baumgarten Beim 6. Internationalen Filmfest in Oldenburg präsentierte US-Schauspieler Matthew Modine die Weltpremiere seines Langfilm-Regiedebüts If…Dog…Rabbit. In dieser hochinspirierten Indie-Produktion erzählt er von einem Ex-Sträfling (den er selbst mimt), dessen beste Vorsätze durch seine Loser-Familie zerstört werden, indem sie ihn dazu bewegt, an einem Raubüberfall in Mexiko teilzunehmen. In sich langsam steigerndem Tempo inszeniert Matthew Modine seine Familienbande und eröffnete uns in einem Gespräch seine jahrelangen Erfahrungen mit Altman, Ferrara, Kubrick…


Dein Film ist wie ein großartiges Konglomerat aus
der Filmgeschichte, vom Film noir bis zu grandiosen
»The Great Escape«-Zitaten…


Ja, ich liebe Filme, in denen Figuren gejagt werden. Das ist auch ein Aspekt, warum mir Lola rennt so gefällt. Bewegungen und große Gesten, die mich natürlich als Schauspieler sehr reizen, wie Steve McQueen auf dem Motorrad über das Feld zu jagen. Mein Sturz im Film war übrigens nicht geplant, ich bin einfach über einen Stein geschliddert und lang hingeschlagen. Ich hatte riesiges Glück. Aber in diesem Moment schrie der Regisseur in mir: »Fucking, get up, get up!«, und ich lief einfach weiter.

Wer hat überhaupt interveniert, als Regisseur Modine gerade vor der Kamera stand?

Mein Regieassistent ist ehemaliger Schauspieler, und wenn ich unsicher über meine Leistung war, dann fragte ich ihn nach seiner Meinung.

Du hast also ohne Videoausspiegelung gearbeitet, an der Du die Szene nachträglich hättest sichten können?

Ja, denn das wollte ich nicht. Zum ersten Mal arbeitete ich mit einem solchen Monitor bei Stanley Kubrick. Ich war ungefähr zwei Jahre mit Full Metal Jacket beschäftigt. Davon hing ich bestimmt ein Jahr lang vor diesem Monitor und schaute mir die Playbacks an. Das braucht einfach sehr viel Zeit, und für »If…Dog…Rabbit« hatte ich die am allerwenigsten. Außerdem ist es in mancherlei Hinsicht besser, seinem Gefühl zu folgen. Ich kann verstehen, daß Clint Eastwood sehr schnell dreht.
Er filmt Szenen in ein, zwei Takes – »okay, move on!«. Wenn sich die Schauspieler leicht unsicher fühlen, fragt er, »du willst noch eine drehen? Warum? War doch gut!«.

Der Beginn Deiner Regiekarriere beruht auf einer Wette, in der Du argumentiertest, daß die meisten Filme schlicht überproduziert seien. Was man bräuchte, seien künstlerische Ambition, einige versierte Handwerker und Schauspieler. Du bist in vielen hochbudgetierten Filmen aufgetreten, welche Erfahrung hat Dich zu dieser Erkenntnis geführt?

Zwei großartige Filmemacher, mit denen ich als Schauspieler gedreht habe, waren in dieser Hinsicht in ihrer Arbeitsweise sehr ähnlich: Abel Ferrara und Stanley Kubrick. Die größte Gemeinsamkeit dieser beiden ansonsten sehr unterschiedlichen Filmemacher besteht in ihrem Wissen, wie man einen Film produziert. Du brauchst diesen ganzen enormen Aufwand nicht, tausende von Trucks oder haufenweise Leute. Das Essentielle liegt in der guten Story und einigen wenigen Profis, denen du vertraust. Das ist nicht sehr kompliziert. Natürlich kannst du Unmengen von Leuten für dich arbeiten lassen, aber das ist es, was die ganze Sache wieder kompliziert macht.

Deinen Film hast Du in zwei Wochen mit minimalem Budget abgedreht, welche Erkenntnisse hast Du aus dem unabhängigen Filmemachen gezogen?

Der gesamte Prozeß der Produktion hat mich sehr erfüllt, und ich war stolz, meine geschnittene Version fertig zu haben.
Es war am Ende aber so, als hätte ich mein Haus mit eigenen Händen gebaut, und als es fertig war, kamen die Produzenten und sagten: »Verschwinde aus unserem Haus!« Ich erkannte plötzlich, dieser Film ist nicht »mein« Film, es ist der Film der Geldgeber, und sie nahmen fünf Minuten heraus. Ich habe bis heute keine vernünftige Erklärung dafür erhalten, und ich mußte mich beugen. Ich habe eine Menge gelernt. Es ist wie der erste Sex. Du hast eine instinktive Vorstellung, wie es funktionieren könnte, hast vielleicht ein Buch darüber gelesen oder einen Film gesehen. Meine Vorstellung, einen Film zu drehen, hatte ich durch meine schauspielerische Erfahrung, und es war wirklich fantastisch. Aber wenn ich zurückdenke, dann bekomme ich schon den Eindruck, es war stellenweise etwas unbeholfen. Aber ich werde es wieder tun!

Deine Karriere als Schauspieler begann 1983 mit Robert Altman, Du hast zwei Jahre später mit Alan Parkers »Birdy« eine der intensivsten Rollen der 80er gespielt und bis heute fast ausschließlich mit Top-Regisseuren gearbeitet. Dabei hast Du Dich mit Deinem vielschichtigen Spiel immer in den Dienst der Kollegen, der Regie, des gesamten Films gestellt. Das sind Eigenschaften eines großen Schauspielers, nicht aber die eines Stars.

Ich besaß eigentlich keinen bewußten Plan zu Beginn meiner Karriere. Aber ich bin Kommunist, im Prinzip, und sehe mich als Teil eines Ganzen. Außerdem halte ich es für enorm wichtig, die Verantwortung des Berufs zu begreifen, zu verstehen, wie machtvoll er sein kann. Wenn du auf der Bühne stehst und die Zuschauer zu dir hinaufsehen oder du überlebensgroß auf eine Leinwand projiziert wirst, dann übst du einen Einfluß auf das Leben der Leute aus, wodurch ein Film oder ein Theaterstück zur Propaganda werden kann. Also achte ich stark darauf, in welchen Filmen ich mitspiele. Wenn ich Filme über Krieg mache, dann eben nur solche wie Robert Altmans »Streamers«, wie Full Metal Jacket oder »Birdy«. Sie zeigen den Krieg auf eine Art, von der ich glaube, daß sie unromantisiert eine gewisse Wahrheit transportieren. Film ist politisch und vor allem wirklich machtvoll, und Stanley Kubrick hat das besser verstanden als jeder andere. Ich hatte nie das Gefühl, seine Filme sagen einem, was zu denken sei. Er konfrontierte sein Publikum stets mit einer Frage.

Wie groß ist der Einfluß der Regisseure auf der Suche nach der Essenz Deiner Figur oder entwickelst Du sie lieber für Dich alleine?

Lieber alleine, nicht zuletzt wegen einer Erfahrung mit Robert Altman. Sein »Streamers« war mein erster großer Film, und ich hatte eine wichtige Szene mit langem Dialog, die mich sehr beunruhigte, da mir die Bedeutung für die Figur nicht vollkommen klar war. Ich wandte mich an Robert Altman und wollte mit ihm über diese Szene sprechen. »Kein Problem«, sagte er, »aber drehen wir sie nicht erst übermorgen? Laß uns später darüber reden.« Am nächsten Tag sprach ich ihn erneut darauf an, und er erwiderte, »ach ja, wir drehen die Szene morgen? Laß uns morgen darüber reden.« Ich blieb die ganze Nacht wach, lernte die Szene und war morgens völlig nervös. Altman entwickelt die Auflösung einer Sequenz meist direkt bei den Proben. Und während er die Einstellungen durchging, war ich noch immer nicht schlauer, und plötzlich wurde aufgenommen, und die Szene war gedreht, ohne daß wir je darüber sprachen. Danach kam Altman zu mir und sagte: »Hätte ich Dir gesagt, worin die Essenz der Szene besteht, dann wäre es meine Vorstellung gewesen. An meinen Vorstellungen bin ich aber nicht interessiert. Mich interessiert, daß die Schauspieler, die ich engagiere, mir ihre eigenen Interpretationen liefern.«

Du hast auf der Schule von Lee Strasberg gelernt. Was denkst Du heute über seine Methode?

Meine Lehrerin Stella Adler hielt Strasbergs Methode, buchstäblich körperlich zum Charakter zu werden, für verrückt und unmöglich. Stella glaubte, daß dein Talent als Schauspieler aus deiner Vorstellungskraft resultiert. Lee Strasbergs Method Acting, wie es immer wieder beschrieben wird, würde ja ungeheure Gefahren bergen. Für mich ist es viel wirkungsvoller, mir historische Beispiele zum Vorbild zu nehmen und diese zur Inspiration meiner Vorstellungskraft zu benutzen. Denn das setzt mir keinerlei Grenzen. Bei Strasbergs Variante hingegen stoße ich irgendwann an körperliche Limits. Es gibt in diesem Zusammenhang eine Anekdote um Laurence Olivier und Dustin Hoffman, als sie »Marathon Man« machten. Sie sollten die Szene drehen, in der sie in diesem kalten, feuchten Raum eingeschlossen sind und Hoffmans Figur nicht weiß, warum sie dort ist und panisch die Zahnarztfolter erdulden muß. Dustin Hoffman blieb also in nasser Kleidung die gesamte Nacht vor dem Dreh in diesem Raum. Am nächsten Morgen kam Laurence Olivier und begrüßte Hoffman, der zitternd mit schwarzen Augenringen vor ihm stand. Olivier war wirklich besorgt und setzte die gesamte Crew in Bewegung, Hoffman warmen Tee bringen zu lassen. Hoffman lehnte freundlich ab, »nein, nein, das ist in Ordnung, ich bereite mich nur auf die Szene vor«. Darauf sagte Olivier: »My dear boy, why don't you just try acting?« Dustin Hoffman hat mit seiner Methode ja niemandem wehgetan, und er war brillant in der Szene, genauso wie Laurence Olivier. Gefährlich wird es nur, wenn jemand mit Hoffmans Methode jemandem am Set schadet. Wenn er jetzt Olivier, der eine andere Methode benutzt, ins Gesicht gespuckt hätte, dann hätte Hoffman Realität in etwas gebracht, das Phantasie ist. Das ist alles Phantasie, it's all make-believe! Das ist ja das Großartige und der Grund, warum vielleicht Clint Eastwood, Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger die besten Schauspieler der Welt sind. Denn die Menschen glauben ihnen, daß sie wirklich harte Jungs sind. In Wahrheit sind sie wie Kinder, die Räuber und Gendarm spielen. 1970-01-01 01:00
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