— — —   DER SCHNITT IST OFFLINE   — — —

Die Konstitution des Wunderbaren

Simon Spiegel: Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg 2007. Schüren Verlag. 385 Seiten. 24,90 EUR.

Unendliche Weiten und Big Dumb Objects

Von Ines Schneider Simon Spiegel legt in seinem Werk »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films« eine systematische Darstellung der Faktoren vor, die uns einen Film als Science Fiction-Film erkennen und verstehen lassen. Spiegel stellt folgende Fragen: Wie lauten die Regeln des Genres, woher kennt der Rezipient sie, und wie viele davon dürfen gebrochen werden, bevor ihm der Film unverständlich vorkommt?

Am Anfang jedes Kapitels werden Begriffe, deren Gebrauch sich bei der Diskussion über Science Fiction anbietet, sorgfältig erläutert. Von »Science Fiction in der Literatur« über »Genre«, »Verfremdung«, »Metapher« oder »Sense of Wonder«, bis zu »Big Dumb Object« stellt er die historische Entwicklung dieser Bezeichnungen dar, den Kontext, in dem verschiedene Geisteswissenschaftler sie gebraucht haben und schließlich sein eigenes Verständnis der einzelnen Ausdrücke. Er erklärt dem Leser beispielsweise eingehend das Prinzip des »Erhabenen«, wie es schon in der Gothic Novel des 18. Jahrhunderts angewendet wurde, zeigt sein Auftreten in der Science Fiction-Literatur, später im Science Fiction-Film und weist ebenfalls auf die Grenzen hin, die sich in der filmischen Darstellung für dieses Erzählelement ergeben. Erst nachdem er für sein Studienobjekt eine wissenschaftliche Sprache etabliert hat, wendet sich Spiegel den narrativen Mitteln zu, die aus Filmaufnahmen eine Geschichte und aus einer Geschichte Science Fiction machen.

Der Autor legt das Wechselspiel zwischen Filmemacher und Rezipienten offen. Science Fiction muß bis zu einem gewissen Grad das Unbekannte bekannt wirken lassen, um das Verständnis der gezeigten Welt zu erleichtern. Doch der Reiz einer Science Fiction-Erzählung besteht darin, andere Eindrücke zu bieten, als sie der Alltag bereithält. Im besten Fall fügt ein Werk dem Genre, formal oder inhaltlich, noch eine neue Seite hinzu.

Spiegel macht die Strukturen verständlich, die dem Genre zu Grunde liegen. Daß dies gelingt, liegt auch an der geschickten Auswahl der Filmbeispiele. Am aufschlußreichsten werden seine Ausführungen immer dann, wenn er sich auf Brüche der Genrekonventionen konzentriert, wie sie beispielsweise in Andrej Tarkowskijs Stalker vorkommen. Hier wird ein verlassener Landstrich zur verbotenen Zone erklärt, woraufhin sie dem Zuschauer augenblicklich geheimnisvoll, gefährlich und fremd erscheint. Zusätzlich wendet Spiegel die Regeln auf Filme an, die man nicht ohne weiteres dem Science Fiction zuordnen würde, wie David Lynchs Lost Highway. In diesem vielseitig deutbaren Werk bleibt eine bestimmte Szene unklar: Eine Figur taucht an einem Ort auf, wo der Zuschauer sie nicht vermutet hätte und wo er ihr Erscheinen mit Hilfe seiner bisherigen Kinoerfahrung auch nicht erklären könnte. Käme eine solche Begebenheit jedoch in einem Science Fiction-Film vor, würde er sie als Teleportation deuten. Mit dieser Vorgehensweise macht Spiegel dem Rezipienten erneut die Erwartungshaltung bewußt, die einzelne vertraute Motive bei ihm auslösen, und schlägt ihm zusätzlich auch eine ganz neue Lesart der betreffenden Filmszenen vor.

Die abgedruckten Filmbilder sind häufig etwas enttäuschend, einige in Schwarzweiß, alle jedoch sehr klein. Auf der beigefügten DVD sind allerdings die wichtigsten Sequenzen zu sehen. Zusammen mit den Standbildern und Spiegels Nacherzählungen ergibt sich darüber hinaus sogar eine Wechselwirkung zwischen den einzelnen Darstellungsformen, die den Rezipienten die beschriebenen Szenen noch facettenreicher erleben läßt, wie im Fall von Forbidden Planet von Fred M. Wilcox oder Phase IV von Saul Bass.

Spiegels Untersuchungen bauen auf der wissenschaftlichen Arbeit anderer Medientheoretiker auf, wie den Thesen David Bordwells zu den Gesetzmäßigkeiten der Narration oder denen Jurij Lotmans zur Grenzüberschreitung als Grundmotiv jeder Erzählung. Seine Herangehensweise ist methodisch, seine Ausführungen bleiben immer nachvollziehbar Dazu wird die Handhabung noch durch eine ausführliche Bibliographie, eine Filmographie und einen Index erleichtert.

Nur manchmal verfällt Spiegel bei den Bemühungen, die Absicht des Filmemachers und die Erwartungshaltung des Rezipienten zu benennen, in eine etwas zu wissenschaftliche Sprache. Er verwendet das Vokabular aus den Medientheorien der letzten Jahrzehnte. Worte wie »Extrapolation« wird vielleicht selbst der Leser mit Vorkenntnissen nicht sofort verstehen. Andere Bezeichnungen klingen gelegentlich stark konstruiert, wie der »Realitätsinkompatibilitäts-Klassifikator« von Marianne Wünsch. Entfernt sich Spiegel von der reinen Aufarbeitung des gegebenen Materials, wird seine Sprache wiederum etwas schlampig: »Statt der Eroberung des Weltalls war die Erforschung des inner space der Seele angesagt.« Da es immer wieder Parallelen zwischen der Film- und der Literaturwissenschaft gibt, beziehen sich viele der angesprochenen Untersuchungen auf Texte, so daß manche Begriffe, die aus diesem Kontext übernommen wurden, auf einen Film bezogen nicht ganz passend wirken, wie der Versuch, eine Filmszene »wörtlich« zu nehmen. Der Autor ist sich dieser Problematik jedoch bewußt und macht immer wieder auf die Unterschiede der beiden Disziplinen aufmerksam.

»Die Konstitution des Wunderbaren« stellt ein vorbildliches Beispiel für eine wissenschaftliche Arbeit dar, doch der Autor löst sich selten von den Theoretikern, in deren Werke er den Leser einführt. Seinen eigenen Beobachtungen und Schlußfolgerungen gibt er weniger Raum. Er bietet einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung zu den narrativen Mitteln des Science Fiction-Films, doch er fügt dem wenig hinzu. 2007-10-22 10:45

Medien

© 2012, Schnitt Online

Sitemap