Penis gegen Gehirn
Ein Plädoyer für mehr Sex auf der Leinwand
Von Daniel Bickermann
Ich war 14, als es das erste Mal passierte. Ich saß im Kino, schaute
Pretty Woman, und Richard Gere war nach einem Blowjob vor dem Fernseher und ein bißchen romantischem Klaviergeklimper in der Hotellobby endlich drauf und dran, im gemeinsamen Zimmer Julia Roberts zu verführen – da rutschte plötzlich ein hölzernes Verzierungsgitter vors Bild. Man kann sich mein Entsetzen angesichts dieses amateurhaften Kamerafehlers sicher vorstellen: War denn niemandem aufgefallen, daß da volle dreißig Sekunden lang nichts mehr zu erkennen war?
Beim interessierten Fernsehstudium in den folgenden Jahren stieß ich immer wieder auf das gleiche Phänomen. Seit wann wird eigentlich stillschweigend hingenommen, daß sich dauernd Milchglasscheiben und wehende Vorhänge zwischen den Zuschauer und die Sexszenen schieben? Kriegen Kameramänner bei nackter Haut spontane Schwächeanfälle, oder warum driftet ihr Blick immer zum Wecker auf dem Nachttisch oder dem Kleiderchaos auf dem Boden? Und was ist mit der Schärfeeinstellung los?
Das häufigste Argument, auf das ich bei meinen Beschwerden über zu wenig Sex auf der Leinwand treffe, ist die etwas alberne Gegenfrage: »Ja, warum muß man das denn zeigen?« Ich könnte dann anmerken, daß man auch Comedy-, Action-, oder Dialogszenen nicht unbedingt zeigen muß – deswegen kommt ja trotzdem keiner auf die Idee, bei einer Tortenschlacht der Marx Brothers plötzlich auf unscharf zu stellen oder Russell Crowes dramatischen Schlußmonolog durch eine Zimmerpflanze zu filmen. Niemand würde die Kamera wegdrehen, wenn sich die Protagonisten das erste Mal küssen, niemand würde den ersten Weltraumspaziergang des jungen und draufgängerischen Astronauten nicht zeigen, niemand würde voller Vorfreude zwei Menschen zum Frühstück begleiten, dann aber ein paar Sekunden lang die Tür filmen, abblenden und erst nach beendetem Mahl wieder zur Diskussion einsteigen, ob die Rosinen im Müsli nicht etwas zu viel waren. Warum also den einen Höhepunkt zeigen, den anderen aber aussparen?
Man kann diese erwähnte Gegenfrage aber auch einfach beantworten, schließlich gibt es tausend gute Gründe, Sexszenen zu zeigen. Bleiben wir doch mal bei
Pretty Woman: Da nimmt ein vom Leben gelangweilter Firmenspekulant eine Straßennutte ran. Mir will doch wohl keiner erzählen, daß es nicht wichtig wäre, was der mit ihr so macht, wie das abläuft, wem das Spaß macht und wer dabei die Initiative hat?
Gute Sexszenen erzählen oft mehr über die Figuren als ihre dramatischsten Dialoge. Man denke an die kalte Gier von Juliette Binoche und Jeremy Irons in Louis Malles
Verhängnis: als würden zwei Untote versuchen, sich gegenseitig einen Hauch Leben aus den Körpern zu saugen. Oder der berüchtigte Fesselsex zwischen Tony Leung und Wei Tang in Ang Lees
Gefahr und Begierde: ein brutaler Stellvertreter-Kampf um (Staats-)Macht und Unterdrückung. Oder das Spiel aus Schrift und Sex in Peter Greenaways
Bettlektüre: die körperliche Liebe als letzte literarische Kunstform. Oder Antonionis
Zabriskie Point mit seinem legendären Love-in in der Wüste: Sex als gloriose Illusion der Zugehörigkeit zu einer Massenbewegung. Oder Soderberghs
Out of Sight: eine romantische Montage aus anfänglichem Flirt und abschließendem Sex.
A History of Violence hatte sogar zwei epochale Sexszenen: Erst ein neckisches Rollenspiel mit Cheerleaderuniform und später der berüchtigte Treppenfick – beide erzählen mehr über die Charaktere als ein vierbändiges psychologisches Standardwerk. Und selbst Komödien profitieren von sexueller Ehrlichkeit: Haders herrlicher Gipsbein-Geschlechtsverkehr mit Barbara Rudnick in
Komm süßer Tod – mit Bettdecke über dem Kopf, dafür untenrum offen – ist schlicht unbezahlbar.
Die Frage lautet also eher: Warum sollte man das nicht zeigen? Das Problem geht tiefer als ein bißchen Prüderie: Die Filmbranche hat Sex und Gehirn getrennt mitgebracht. Pornofilme sind ja gut und schön, aber auf echtes Gefühl, geschweige denn interessante Dialoge, wartet selbst der Spezialist meist vergebens. In Nicht-Pornos ist es genau umgekehrt: Filmfiguren haben Berufe, Beziehungen, Gefühle, und viele zeigen sogar sexuelles Verlangen – aber wehe, wenn sie auch einen Penis oder eine Vagina haben. Deswegen war letztes Jahr auch das Geschrei so groß, als John Cameron Mitchells wunderbarer kleiner Beziehungsreigen
Shortbus ins Kino kam: Filmfiguren, die Sex haben! Fast wie normale Leute! Dürfen die das? Gott bewahre, am Ende schauen sich die Zuschauer da vielleicht noch was ab.
Vielleicht waren alle auch nur so sauer, weil der Film nicht in der Katastrophe endete. Denn wenn es bisher Sex auf der Leinwand gab, zum Beispiel in den sogenannten »Arthouse-Pornos« der 1990er, bei
Romance,
Baisse-moi oder
Intimacy, dann endete es grundsätzlich schlecht. Sex war das neue Crack: Wer einmal der Begierde verfiel, konnte nie mehr gerettet werden. Und dann kam auch noch
Irreversibel, der überhaupt keine Geschichte mehr hatte, aber unbedingt üblen Sex zeigen wollte, der natürlich in der ultimativen Apokalypse enden mußte – die dümmste Form der Pornographie ist immer noch die, die so tut, als wäre sie Kunst. Der Sex in
Shortbus dagegen war wie der im richtigen Leben: Manchmal lustig und manchmal langweilig, manchmal irgendwie doof und manchmal richtig super. Da war er also endlich, 17 Jahre nach
Pretty Woman, der Film, nach dem ich gesucht hatte, in dem kein Kameramann Schwindelanfälle bekam und kein Schauspieler kalte Füße – und anstatt sich ein bißchen zu freuen und Spaß am Sex auf und jenseits der Leinwand zu haben, zeigten die deutschen Feuilletons vor allem Verwirrung: Während Susan Vahabzadeh in der SZ den Film zwar vorsichtig lobte, aber mangelnden Anspruch (beispielsweise einen »Bezug zu Lacan«) vermißte, forderte Dietrich Diederichsen gleichzeitig in der Zeit, der Film möge sich gefälligst zwischen Psychologie und Sexualitätsdarstellung entscheiden – man ist die Trennung von Gehirn und Penis schon so gewohnt, daß man eine Kombination aus beidem offensichtlich als Fanal empfindet.
Der generelle Trend ist ja nicht unbekannt: Im aufschlußreichen Dokumentarfilm
The Hollywood Closet wird sehr genau analysiert, wie bis in die 1990er Jahre hinein homosexuell veranlagte Figuren erst totgeschwiegen wurden und dann in ihren ersten Filmauftritten abschließend eines grausigen Todes sterben mußten, um die natürliche Ordnung wiederherzustellen. Erst im letzten Schritt kam das Happy End als mögliche Lösung (und auch damals wurde kritisiert,
In & Out wäre nun nicht gerade
Citizen Kane, als müßte eine schwule romantische Komödie mindestens fünf Filmtheoretiker zitieren, um eine Daseinsberechtigung zu haben). Eine ähnliche Enttabuisierung erfährt gerade die sexuell auf der Leinwand aktive Figur: Jahrzehntelang verschwieg man die Tatsache ihrer Existenz, der Filmkosmos schien bevölkert von platonischen Liebeswesen; als man ihre Existenz schließlich anerkannte, machte man es zum Klischee, daß die sexuell aktive Figur scheitern und am besten sterben mußte – erst im Horrorfilm (wo die Unkeuschen immer als erste draufgehen), dann im Arthouse-Porno (wo Neurosen, Schuld und Einsamkeit die sexuell aktive Figur für ihr schändliches Tun bestraften). Doch die Befreiung wird auch hier kommen, und bald werden wir vielleicht das erste Pärchen sehen, das sich zum Abschluß nicht einfach nur küßt, sondern gleich liebt. Zur Abblende beim Orgasmus wird es von mir Szenenapplaus erhalten.
Natürlich gibt es in einer Welt, in der das schmierige Internetmagazin Mr. Skin ein Monopol auf die jährlichen Bestenlisten an Filmsexszenen hat (und dabei über barbusige Starlets geifert, anstatt psychologisch oder ästhetisch originelle Sexszenen auszuzeichnen), noch immer viele, zu viele Mißverständnisse, was den Sex auf der Leinwand angeht. Es geht zum Beispiel gar nicht darum, nun unbedingt primäre Geschlechtsmerkmale in die Kamera zu halten. Viele Zuschauer sind von Bertoluccis
Die Träumer, von Winterbottoms
9 Songs oder von Larry Clarks’
Ken Park wegen der als unnatürlich empfundenen Offenheit eher abgestoßen als angezogen – und das ist auch okay; nicht selten wollen die Filmemacher genau mit dieser Abscheu spielen. Daß die Großaufnahme des Aktes also nicht jedermanns Sache ist, mag verständlich sein, aber muß man deswegen gleich abblenden und eine Ellipse schaffen, die dem Zuschauer eine ungesunde Deutungshoheit über eine komplette, eigentlich entscheidende Szene gibt? Ist das noch Anstand oder einfach nur Feigheit?
Das Tabu in den Sehgewohnheiten ist natürlich existent, aber es ist eben nicht natürlich, sondern kulturell: In Bollywood-Filmen wurde jahrzehntelang tatsächlich um Küsse herumgeschnitten, die nicht auf die Wange oder auf die Stirn erfolgten, in England schneidet man gezielt Kopfstöße aus Filmen heraus, und der Hayes Code verbot es Hollwoodfilmen etwa jahrzehntelang, Toiletten zu zeigen. In Japan dagegen, das sexuell deutlich offener ist, experimentierten Filmemacher wie Nagisa Oshima oder Hiroshi Teshigahara schon seit den Sechzigern mit Sexszenen als Ausdruck gesellschaftlicher Befindlichkeit oder individueller Konflikte –
The Woman in the Dunes oder
Im Reich der Sinne sind hier nur zwei berühmt gewordene Beispiele unter vielen. Daß man für relevante und stimmungsvolle Sexszenen nicht unbedingt ins anatomische Detail und vor allem in die pornographische Ästhetik abrutschen muß, beweisen neben oben aufgezählten Beispielen nur wenige westliche Regisseure regelmäßig. Eindeutig an der Thematik interessiert ist sicherlich Nicolas Roeg, der noch immer seiner legendären Montage aus Liebe und morgendlichem Ankleiden in
Don’t Look Now nachspürt – kürzlich wieder in seinem eher unauffälligen Digitalthriller
Puffball, der einige äußerst innovative Sexszenen aufwies. Auch Michael Winterbottom hat sich als Vorreiter auf dem Gebiet der Sexszenen im Erzählfilm profiliert, auch wenn seine
9 Songs eher ein Ausrutscher in die Amateurpornoästhetik waren – dafür hat er in
Butterfly Kiss, in
24 Hour Party People und vor allem mit der überintimen Nahsexeinstellung auf Samantha Morton in
Code 46 die Sexfilmsprache um einige brillante Ideen erweitert. Ohnehin ist es durchaus üblich, daß Regisseure, die sich an Sexszenen abarbeiten, die Hälfte der Zeit am Ziel vorbeischießen – ihr Mut sollte trotzdem honoriert werden, schließlich ist die Versagensquote nur deswegen so hoch, weil man sich eben auf filmsprachlich konventionslosem Gebiet bewegt. Andere hier lobend hervorzuhebende Namen sind die Wachowski-Geschwister (deren Sexszene in
Bound noch glorios gelang, wohingegen die in
Matrix Reloaded als emotionsloses Zentrum eines dysfunktionalen Films gesehen wurde), Chen Kaige (dessen
Lebewohl, meine Konkubine in dieser Hinsicht noch überzeugen konnte, während sein Bondage-Thriller
Killing Me Softly grotesk scheiterte), David Cronenberg (dessen Faszination mit Sex aus einer generellen Körperfetischisierung kommt, weswegen seine Sexszenen selten ohne insektoide, technoide oder mutante Elemente vonstatten gehen), Pedro Almodóvar (der als einziger auch skurrilen Humor in seine Sexszenen einfließen läßt) und natürlich Ang Lee, der es als vermutlich erster Filmemacher schaffte, einem westlichen Publikum eine schwule Sexszene nahezubringen (eine Aufgabe, an der sowohl Arthur Hiller in
Making Love als auch William Friedkin in
Cruising noch schwer gescheitert waren).
Lenny Bruce, der große Tabubrecher unter den Stand-Up-Comedians, hat in den 1960ern mal zu Protokoll gegeben, er würde seine Kinder lieber vor einen Sexfilm als vor einen Jesusfilm setzen. Beim einen würden sie was übers Liebemachen erfahren, beim anderen würden sie nur lernen, wie man unschuldige Leute auspeitscht und an einen nassen Holzbalken nagelt. Deswegen nochmal der Aufruf an die Filmemacher: Mehr Sex auf der Leinwand bitte! Das erzählt was über die Figuren, macht Spaß, und die Kinder lernen noch was.
2008-12-09 16:45