Ich sehe was, was du nicht siehst
Zur Filmzensur in Geschichte und Gegenwart
Von Roland Seim
Auch wenn die Auswirkungen von Zensur bei uns längst nicht so dramatisch sind wie z. B. im Iran, wo Jafar Panahi, Regisseur und Berlinale-Jurymitglied, zu einer sechsjährigen Haftstrafe und 20jährigem Berufsverbot verurteilt wurde; auch wenn bizarres Leinwandgemetzel von Jason bis Jigsaw suggeriert, daß es mittlerweile keine Grenze des Darstellbaren mehr gibt, so heißt das nicht, daß keine Zensur existiert. Filmfans stoßen immer wieder auf Fragen nach Schnitten und Altersfreigaben, nach Kontrolle und Verbot.
Welche Vorbehalte gibt es, welche Gesetze und Gremien wachen über die wandelbaren Grenzen? Funktioniert Filmzensur heute noch?
Von den Anfängen bis zum Kriegsende
Jedes neue Medium gilt als Bedrohung bewährter Kontrollstrategien. Vom Buchdruck bis zum Cyberspace fürchten Machthaber das Ende ihres Definitionsmonopols.
Der Film ist nicht nur die wohl bedeutendste kulturtechnische Innovation und wichtigste Kunstform des 20. Jahrhunderts, sondern wegen seiner Suggestivkraft auch die am meisten reglementierte.
Den ambivalenten Ruf verdankt das »Kintopp« seinen Anfängen um 1900 als Jahrmarktvergnügen für die unterprivilegierten Gesellschaftsschichten. Bezogen sich die Gefährdungsannahmen einer nervenzerrüttenden Fantasieüberreizung zunächst auf dieses »Gesamtkunstwerk« aus Bewegtbild, Text und Ton/Musik als solches, gerieten schnell auch die Inhalte ins Visier der Kontrollbehörden und Gesetze. Noch für Theodor W. Adorno war der Film nichts anderes als »die planvolle Reproduktion des Niedrigen«. Damit der Zuschauer dem nicht schutzlos ausgeliefert ist und zum verhaltensgestörten Medienopfer mutiert, wurde ein institutionalisierter Kontrollzwang installiert, dem wir bis heute zahllose Schnitte, Indizierungen und Verbote verdanken.
Bereits die ersten Filme mit seichtfrivolem Inhalt wurden zensiert, so etwa 1907
Fatimas Schlangentanz aus dem Jahr 1894 in Chicago, wo das erste Zensurkomitee gegründet wurde. 1909 entstand in New York das National Board of Censorship. Hollywoods Production Code des Hays-Office schrieb bis 1966 vor, was gezeigt werden durfte. Viele Filme, die dagegen verstießen, wurden geschnitten oder kamen für lange Zeit in den Giftschrank, z. B. Tod Brownings anrührende Zirkusparabel
Freaks (1932).
In Deutschland unterstand seit 1908 die Filmzensur der Polizeikontrolle. Albrecht Hellwig unterschied 1911 in seinem gleichnamigen Buch drei Kategorien des »Schundfilms«: »die lediglich geschmacklosen, die sexuellen und die kriminellen. Schädlich wirken alle Arten des Schundfilms durch die unvermeidliche Abschwächung des Abscheus vor dem Verbrechen«. 1920 wurde das Lichtspielgesetz erlassen und Filmprüfstellen in Berlin und München wurden eingerichtet. Um Ärger zu vermeiden, wurden sperrige Stoffe von den Produzenten schon vor Drehbeginn abgeändert, z. B. bei Robert Wienes expressionistischem Meisterwerk
Das Kabinett des Dr. Caligari (1919/20), dessen Handlung in der realisierten Fassung als Hirngespinst und Fantasie eines Irren daherkommt.
Im »Dritten Reich« sorgte u. a. die Reichsfilmkammer für ideologiedienliche Inhalte. 1934 wurde das Lichtspielgesetz und 1938 das Gesetz zum Schutze der Jugend erlassen; die Prüfstelle für Schmutz- und Schundschriften sondierte Fragwürdiges. Verboten oder geschnitten wurden Filme vor allem wegen »Verletzung nationalsozialistischen Empfindens«, z. B. Fritz Langs
Das Testament des Dr. Mabuse (1933) und Helmut Käutners
Große Freiheit Nr. 7 (1944), aber auch
Kuhle Wampe (Slatan Dudow, 1932),
All Quiet on the Western Front (
Im Westen nichts Neues, Lewis Milestone, 1930) oder Sergei M. Eisensteins
Bronenosets Potyomkin (
Panzerkreuzer Potemkin, 1925) wurden zensiert oder unterbunden. Eine andere Möglichkeit war die Störung von Filmvorführungen durch SA-Trupps, was zum Aufführungsverbot zur »Verhinderung einer Störung der öffentlichen Ruhe« führte. Nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands verboten die Alliierten NS-Propagandafilme wie
Der ewige Jude (Fritz Hippler, 1940) und
Jud Süß (Veit Harlan, 1940). Zudem führten sie Militarismus als Verbotskriterium ein.
Bevor wir zum zweiten Teil des historischen Abrisses kommen, nun ein Exkurs zu den Filmtabus und den heutigen Kontrollgremien:
Zur »Hall of Blame«
Die wichtigsten Filmtabus
Jürgen Kniep nennt 2010 in seiner Dissertation »Keine Jugendfreigabe!« sieben Zensurmotive zwischen den späten 1940er und 1980er Jahren: »Sexualität, gesellschaftliche Leitbilder, Politik (und nationale Geschichtsbilder), Religion, Gewalt, Kriminalität und Militarismus.«
Heute sind die wichtigsten verbotsbegründenden Tabus: Gewaltverherrlichung und -verharmlosung, sogenannte harte Pornographie (insbesondere Kinderpornographie), Kriegsverherrlichung, NS-Ideologie und andere verfassungsfeindliche Extremismen, Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung (insbesondere Antisemitismus und Islamkritik), Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung von Frauen, Minderheiten usw. Regeln, die im sozialen Miteinander sinnvoll sind, werden auf fiktionale Kunstwerke übertragen, häufig ohne die genretypischen Stilmerkmale zu berücksichtigen. Auch die Verletzung von Persönlichkeitsrechten kann zur Untersagung führen. Die positive Darstellung von Tabak- und Alkoholkonsum wird mittlerweile vermieden, um keinen Ärger – wie bei
Avatar (James Cameron, 2009) – zu bekommen.
Das unausgesprochene Tabu der Medienbranche ist die Langeweile. Ein Film darf alles mögliche sein – skandalös, eklig, aufreizend, nur eben nicht öde.
Zensurgesetze und -gremien
Da eine Gesellschaft auch in Kunst und Medien keine rechtsfreien Räume duldet, setzt sie Grenzen, was zeigbar ist bzw. verhindert werden soll. Dabei vermeidet man den negativen Begriff Zensur (selbst in China heißt das »Harmonisierung«) und nennt Regulationen lieber Jugendschutz, freiwillige Selbstkontrolle, Proporz, Persönlichkeitsrechte oder Gefahrenabwehr einer wehrhaften Demokratie.
Man kann zwischen Vor-, Nach- und Selbstzensur unterscheiden, also:
– einer internen Präventivzensur (FSK, Juristenkommission der SPIO, FSF etc.)
– einer externen repressiven Prohibitivzensur (BPjM, Kommission für Jugendmedienschutz KJM und Gerichte)
– schwer nachweisbaren Selbstzensurformen des vorauseilenden Gehorsams aus ökonomisch-marktstrategischen oder politischen Erwägungen durch die Produzenten und Rechteinhaber.
»Eine Zensur findet nicht statt« (Art. 5 Grundgesetz) stimmt insofern, als daß die Kontrollen vor einer Veröffentlichung freiwillig sind, Altersfreigaben in allen Ländern stattfinden und nachträgliche Indizierungen oder gerichtliche Verbote nur auf Antrag hin geschehen und durch Gesetze geregelt sind: im Filmbereich vor allem durch das JuSchG (Jugendschutzgesetz) sowie § 131 und § 184 StGB (Gewaltverherrlichung bzw. »harte« Pornographie), nach denen Totalverbote verfügt werden. Der Zoll kann die Einfuhr unterbinden.
Filmzensur seit der Gründung der Bundesrepublik
Seit 1949 prüft die halbstaatliche und halbwirtschaftliche Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) der Filmwirtschaft alle ihr vor der Veröffentlichung eingereichten Filme sowie Werbematerialien (seit 1985 auch alle Videos, später DVDs) und vergibt verbindliche Altersfreigaben. Um Kosten für eine Zweitprüfung zu sparen, reichen Labels oft schon gekürzte Fassungen ein, um eine möglichst niedrige Freigabestufe zu erlangen.
Theoretisch ist diese Vorzensur freiwillig, praktisch aber unumgänglich, da Kinos und Handel keine ungeprüften Filme ins Programm aufnehmen, die wie »ab 18« scheinen und deshalb indiziert und verboten werden könnten. Ohne Jugendfreigabe darf ein Film nicht beworben werden, wie der aktuelle Streit um
Kurtlar Vadisi Filistin (
Tal der Wölfe – Palästina, Zübeyr Sasmaz, 2011) belegt. Daß eine Freigabe nicht vor Beschlagnahmung schützt, zeigte sich schon früh: So verbot die Polizei 1951 den skandalumwitterten Knef-Film
Die Sünderin (Willi Forst, 1951) wegen einer Nacktszene und der Thematisierung von Prostitution und Suizid. 1954 ließ ihn das Bundesverwaltungsgericht wieder zu.
Nicht freigegebene Filme schafften es erst gar nicht in die Kinos, wie 1950 Roberto Rosselinis
Roma, città aperta (
Rom, offene Stadt, 1945), da er eine »volksverhetzende« Wirkung haben könnte, die »gegen die Völkerverständigung« wirken könnte. Erst zehn Jahre später war er – mit einigen Synchronisationsänderungen – zu sehen.
Bevor es die Möglichkeit zum direkten Vergleich mit dem fremdsprachigen Original bzw. Director’s Cut gab, waren sinnentstellende Synchronisationen und Filmkürzungen schwer nachzuweisen. So wußten nur Cineasten, die das Original kannten, daß
Casablanca (Michael Curtiz, 1942) 1952 zu einer Art Agentenfilm verstümmelt in die deutschen Kinos kam, 23 Minuten kürzer. Die Figur des SS-Majors Strasser fehlte; der tschechoslowakische Widerstandskämpfer Victor Lászlo war plötzlich ein norwegischer Atomphysiker namens Victor Larsen. Erst 1975 wurde eine authentisch rekonstruierte Fassung produziert.
1954 entstand die wichtigste Nachzensurbehörde, die weltweit einmalige Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute …Medien) in Bonn, die das 1953 geschaffene Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften umsetzt. Schätzungsweise 15.000 Objekte – vom Comic bis zur Website – landeten seitdem auf ihren Jugendverbotslisten. 1964 traf es den ersten Schmalfilm; 1980 das erste Video und 1984 das erste PC-Spiel. Seit 2003 werden Indizierungen nach 25 Jahren von Amts wegen aufgehoben, wenn keine Folgeindizierung erfolgt. Die Listen der indizierten Web-Angebote (sogenannte Telemedien) und »Trägermedien, deren Listenaufnahme aus Gründen des Jugendschutzes nicht öffentlich bekanntgemacht werden«, sind geheim.
Aber zurück zur historischen Abfolge. Während des Kalten Krieges 1954-1967 untersagte der Interministerielle Ausschuß die Einfuhr von etwa 130 Filmen, die seiner Meinung nach gegen die Grundordnung der Verfassung verstießen. Wolfgang Staudtes DEFA-Film
Der Untertan (1951) war in der BRD sechs Jahre verboten. Erst 1957 war hier eine um zwölf Minuten gekürzte Fassung zu sehen. In der DDR hingegen stand die Filmproduktion von vornherein unter staatlicher Kontrolle. Nicht genehme Inhalte wurden entweder nicht gefördert oder kamen nachträglich unter Verschluß, z. B.
Die Spur der Steine (Frank Beyer, 1966) mit Manfred Krug.
Trotz einer gewissen Neigung zur Überregulierung funktionierte die bundesdeutsche Filmkontrolle lange Zeit recht gut, indem die Lichtspielhäuser darauf achteten, daß nur Zuschauer entsprechenden Alters hereinkamen.
Umstritten waren z. B. Oswalt Kolles Aufklärungsfilme, Ingmar Bergmans
Tystnaden (
Das Schweigen, 1963) oder Stanley Kubricks
Clockwork Orange (
Uhrwerk Orange, 1971). Blasphemie war, wie bei Herbert Achternbuschs Auferstehungsgroteske
Das Gespenst (1983), ein eher seltener Streitpunkt. Scheinbar besonders grobe Auswüchse wurden gerichtlich untersagt. Selbst der erste Splatterfilm, Herschell Gordon Lewis’
Blood Feast (1963) wurde noch 2004 vom Amtsgericht Karlsruhe einkassiert. Nagisa Ôshimas Erotikdrama
Ai no corrida (
Im Reich der Sinne, 1976) wurde 1976 sogar auf der Berlinale beschlagnahmt, später aber wieder freigegeben und läuft jetzt als moderner Klassiker ungeschnitten im TV.
Die Einführung des Privatfernsehens, und vor allem des ambulanten Trägermediums Video seit den frühen 1980er Jahren revolutionierten den Umgang mit Filmen durch eine Zweitverwertung auch fragwürdiger Filme, »direct to video« und Umgehung der Alterskontrollen. Die privat konsumierbaren, leicht kopierbaren und schlecht kontrollierbaren Videos verhalfen den Jugendschutzgremien zu neuem Sinn. Aufgeschreckt von Zombies, Kannibalen und Serienkillern stilisierten Presse und Öffentlichkeit im Kampf gegen die »Videoflut« die bis dahin wenigbeachtete Bundesprüfstelle zum Fels in der Brandung, um nicht nur die lieben Kleinen zu bewahren, sondern auch um Sozialkontrolle auszuüben.
Zum aktuellen Stand
Wie in »BPjM-Aktuell«, dem amtlichen Mitteilungsblatt der Bundesprüfstelle, zu lesen ist, sind Anfang 2011 in Deutschland rund 2.650 Videos/DVDs indiziert, darunter immer noch Klassiker wie Pasolinis
Saló o le 120 giornate di Sodoma (
Die 120 Tage von Sodom, 1975), Andy Warhols
Bad (Jed Johnson, 1977),
Dracula (Paul Morrissey, 1974) und
Frankenstein (Paul Morrissey und Antonio Margheriti, 1973) (für weitere 25 Jahre folgeindiziert) und Peter Jacksons
Bad Taste (1987). Spezielle Vermarktungsstrukturen wie das Shop-im-Shop-System in Videotheken, verschlüsselte Satellitenprogramme oder der Ab-18-Bereich von Online-Märkten bewirken, daß die Indizierung von Filmen keine so gravierenden Folgen hat wie bei anderen Medien. Bücher, Musik oder Comics verschwinden wegen der Werbe- und Vertriebsbeschränkungen sowie fehlender Erwachsenenläden eher aus dem Handel. Allerdings wird das gerichtliche Totalverbot auch für Erwachsene als schärfstes Schwert der Justiz im Filmbereich häufiger angewendet: Während nur acht Kinofilme verboten sind (u. a.
The Evil Dead [
Tanz der Teufel, Sam Raimi, 1981],
Antropophagus [
Der Menschenfresser, Joe D’Amato, 1980] und
Texas Chainsaw Massacre 2 [Tobe Hooper, 1986]), sind es auf Video/ DVD wegen Gewaltverherrlichung ca. 275 Titel und wegen Pornographie ca. 135 Titel. Selbst
Maladolescenza (
Spielen wir Liebe, Pier Giuseppe Murgia, 1977) traf es 2006. Beschlagnahmungen und Einziehungen, die formaljuristisch nach fünf bzw. zehn Jahren verjährt sind, gelten faktisch danach immer noch, denn nicht eine Straftatbestandsausfüllung verjährt, sondern die Möglichkeit der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung.
Als einer der rechtshistorisch bedeutendsten Fälle sei
The Evil Dead (
Tanz der Teufel, 1981) von Sam Raimi erwähnt. Die Horrorachterbahnfahrt beschäftigte seit dem Verbot 1984 alle Instanzen. Schließlich gab das Bundesverfassungsgericht acht Jahre später eine um 40 Sekunden gekürzte Fassung frei, da eine Verletzung der Menschenwürde bei Filmzombies kaum vorliegen könne, sonst hieße es ja Zombiewürde. Daraufhin ergänzte der Gesetzgeber § 131 (StGB) dahingehend, daß nun auch Gewalt gegen »menschenähnliche Wesen« strafbar sein kann.
Ebenfalls trotz Kürzungen beschlagnahmt und eingezogen sind George A. Romeros
Dawn of the Dead (
Zombie, 1978) und
Day of the Dead (
Zombie 2 – Das letzte Kapitel, 1985). Es ist nur schwer verständlich, warum Meisterwerke des Genres wie
Braindead (Peter Jackson, 1992),
Tetsuo II: Body Hammer (Shinya Tsukamoto, 1992),
Halloween II (
Halloween II – Das Grauen kehrt zurück, Rick Rosenthal, 1981),
Tenebre (
Tenebre – Der kalte Hauch des Todes, Dario Argento, 1982),
Dèmoni (
Dämonen 2, Lamberto Bava, 1985) oder
Night Life (David Acomba, 1989) unzumutbar sein sollen. In Don Coscarellis
Phantasm (
Das Böse, 1979) führte eine kurze Szene mit fliegenden Kugeln 1991 zur bundesweiten Beschlagnahme und 1993 zur Einziehung. 2008 verfügte die Bundesprüfstelle eine Folgeindizierung für weitere 25 Jahre.
Von Sir Peter Jacksons Splatterkomödie
Braindead (1992) gibt es böse verstümmelte Versionen, da die vollständige Fassung u. a. wegen der »Party’s Over«-Showdownszene seit 1999 verboten ist. Auf dem Cover der jugendfreien Fassung liest man: »Der arme Lionel hat alle Hände voll zu tun, die immer größerwerdende Schar Untoter in Schach zu halten. Er würde ja zum Rasenmäher greifen, wäre da nicht ein moralischer Konflikt, gegen § 131 des Gesetzes zu verstoßen…«
Bizarr ist auch der Fall von Tobe Hoopers wegweisendem »Terrorkino«-Beitrag
The Texas Chainsaw Massacre (
Blutgericht in Texas) von 1974. Dank der Beschlagnahmung von 1985 durch das Landgericht München gibt es bis heute keine legale Veröffentlichung, dafür aber 2010 eine erneute Beschlagnahmung einer Version von Laser Paradise durch das Amtsgericht Frankfurt. Die Münsteraner Filmfirma Turbine Medien, eigentliche Rechteinhaberin für Deutschland, versucht seit Jahren erfolglos, den Kultfilm vom Index zu bekommen, und hat 2009 ihre aufwändig rekonstruierte Fassung über das Österreichische Label NSM veröffentlicht.
Die bekanntesten aktuellen Verbotsfälle sind
Hostel: Part 2 (
Hostel 2, Eli Roth, 2007) – 2008 beschlagnahmt, 2009 eingezogen – und
À l’intérieur (
Inside – Was sie will ist in Dir, Alexandre Bustillo und Julien Maury, 2007) – 2009 beschlagnahmt –, während etwa
Martyrs (Pascal Laugier, 2008) oder
The Human Centipede (Tom Six, 2009) frei erhältlich blieben.
Kinofilme werden schon lange nicht mehr indiziert und nur noch höchstselten verboten, und dann vor allem zivilrechtlich bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten. So klagte Armin Meiwes, der »Kannibale von Rothenburg«, zunächst erfolgreich gegen den Kinofilm
Rohtenburg (Martin Weisz, 2006), bis der Bundesgerichtshof ihn 2009 doch freigab.
Die Hauptverantwortung für strafrelevante Inhalte liegt verstärkt bei der Vorzensur durch die FSK und der Selbstzensur durch die Filmfirmen. Nur wenige zeigen Schnitte so deutlich wie Legend Films bei
The Last Horror Movie (Julian Richards, 2003). Die Auflagen wurden zum Bestandteil des Films. Anstelle der beanstandeten Stellen werden Hinweise wie »Szene entfernt – Länge: 23 Sekunden« eingeblendet. Statt eine entschärfende Wirkung zu haben, läuft die Handlung im Verborgenen und im Kopf des Zuschauers weiter (vgl. Stefan Höltgen: »Schnittstellen«, 2010). Die FSK vergab 2005 »Keine Jugendfreigabe«, die Bundesprüfstelle indizierte eine der Fassungen 2006.
Manchmal wird auch das Cover verharmlost. So hält der Reichsadler auf der Sammelbox für Quentin Tarantinos
Inglourious Basterds (2009) nur einen leeren Eichenlaubkranz, da in Deutschland das Hakenkreuz als Symbol einer verfassungswidrigen Organisation nicht zu Unterhaltungszwecken verwendet werden darf. Deswegen wurde die Star Trek-Folge
Patterns of Force jahrzehntelang nicht ausgestrahlt. Im Fernsehen gehören Kürzungen durch die Sender zum Tagesgeschäft, um ein möglichst großes Publikum und höhere Werbeeinnahmen zu erreichen. Bei
True Romance (Tony Scott, 1993) fehlt der komplette Schluß, da ein Happy End zur Nachahmung verleiten könnte, und
Hellraiser (
Hellraiser – Das Tor zur Hölle, Clive Barker, 1987) wurde nur als stark verkürzter Torso gesendet.
Resümee
Kulturgeschichte ist immer auch Zensurgeschichte und umgekehrt. Schnitte, Indizierungen und Verbote sind Ausdruck von Zeitgeist und Wertewandel, Seismographen und Spiegelbild der gesellschaftlichen Empfindlichkeiten. Zensur fordert Gehorsam, fördert aber nicht die Medienkompetenz. Wenn die FSK, drei bzw. zwölf BPjM-Mitglieder oder ein Amtsrichter Kunst oder Schund definieren und damit entscheiden, was 83 Millionen Bundesbürger sehen dürfen, regt sich unter Filmfans Unmut. Der doch nicht so mündige Bürger soll vor seiner dunklen Seite geschützt werden. Angesichts des realen Grauens mutet das wie ein hilfloser Versuch an, die Welt in effigie zu verbessern. Die Ambivalenz von Zensur steigert die Faszination des Verbotenen und die Sammlerpreise.
Die juristischen Grauzonen, vor allem aber die unterhaltungselektronische Revolution, lassen Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Nachzensur aufkommen. Noch stärker als Video verändern die neuen Digitaltechniken und das Internet die Situation. Downloadportale, internationale Auktionsplattformen und Tauschforen machen die klassische Repressivzensur immer sinnloser, da Originalfassungen aus dem Ausland bezogen oder heruntergeladen werden können. Online-Filmdatenbanken berichten, welche Szenen geschnitten wurden.
Bedeutet das eine Kapitulation vor einer technisch ermöglichten Erosion der Werte? Wenn wir heute belächeln, was früher in den Giftschrank kam, wie werden künftige Medien aussehen? Gibt es eine immer größere Libertinage oder eine Rückbesinnung? Macht das »anything goes« wirklich freier, oder entzaubern auf Dauer öde Tabubrüche nicht auch? Man wird sehen.
2011-04-14 09:34