Mut zur Lücke!
Von Mark Stöhr
Reenactment (im wörtlichen Sinne des Nachstellens) scheint das perfekte Verfahren zu sein, wenn Bilder von Ereignissen fehlen: Man inszeniert sie einfach nach. Doch wenn der Regisseur seine Fantasie auslebt, hat die des Zuschauers meist das Nachsehen. Es geht auch anders.
Es gab eine Zeit, in der die Twin Towers in New York noch steil in den Himmel ragten. Ein urbanes Kunstwerk und der Stolz einer ganzen Nation. In der ein Franzose ein Drahtseil zwischen ihnen spannte und sich wie ein schwereloser Harlekin von einem Turm zum anderen bewegte. Es war der waghalsigste akrobatische Coup des 20. Jahrhunderts. Philippe Petit war seit diesem Tag im August 1974 eine Ikone der Hochseilartistik, sogar mehr als das. Er war ein Emissär des zivilen Ungehorsams, einer der zeigte, zu was die Menschen imstande sind, wenn sie sich nicht an die Regeln halten – an die der Physik wie die der Philister.
Die Fiktionalisierung der Erinnerung
James Marsh hat ihm 2008 in
Man on Wire ein Denkmal gesetzt und sich selbst gleich mit. Er gewann mit dem Film den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Ein klares Statement der Academy für filmische Hybrid-Formen, ein Affront gegen Puristen des dokumentarischen Genres. Denn weite Strecken von
Man on Wire sind inszeniert. Während Regisseur Marsh sich zu den Proben des Husarenstücks in 400 Metern Höhe und zur Durchführung selbst noch auf Originalaufnahmen stützen konnte, herrschte zur konkreten Vorbereitung akute Bildernot. Marsh drehte sie nach, als atemlosen Thriller. So wird es wohl gewesen sein: Petits Team schleicht sich als Handwerker-Truppe verkleidet ins World Trade Center, ein konspiratives Grüppchen mit hochfliegenden Zielen, ein Polizist durchkreuzt fast die Pläne, die Drahtseilartisten müssen sich vorübergehend unter einer Plane verstecken. Die Musik feuert die klassische Heist-Dramaturgie an. Die Zuschauer wissen, daß die Geschichte am Ende gut ausgehen wird – die Bilder gingen damals um die Welt und sind bis heute präsent in den oberen Schubladen des kollektiven Gedächtnisses. Die Spannungsstruktur des Films jedoch schürt die Unsicherheit, so als gäbe es an den historischen Fakten noch irgendetwas zu rütteln. Spielt da einer mit gezinkten Karten? Bietet die Fiktionalisierung der Erinnerung einen Mehrwert, der über den bloßen emotionalen Theaterdonner hinausgeht?
Das Reenactment, die Neuinszenierung vergangener Ereignisse also, hat ein grundlegendes Fragwürdigkeitsproblem. Fehlende Bilder werden durch erfundene Bilder ersetzt. Das macht das Verfahren nicht gleich falsch, es macht auch die Ge- schichte, die es neu erzählt, nicht gleich falsch – viele Reenactment-Stücke basieren auf profunder Recherche. Es birgt aber sehr wohl die Gefahr, sich in spekulativen und spektakulären Behauptungen zu verfangen, und vor allem: sich an der Fantasie des Zuschauers zu vergreifen. Das Reeanactment, wie wir es aus dem konventionellen Kino und Fernsehen kennen, ist ein Diebstahl an den Bildern, die wir uns selbst machen, besser: machen könnten. Denn oft sind wir zu faul dazu oder einfach nicht mehr fähig.
Der Filmemacher Robert Krieg hat in einem Text eine Unterscheidung von Inszenierungstechniken versucht, die eine dokumentarische Erzählung aufwerten können oder auf der anderen Seite ihren Wirklichkeitsanspruch ad absurdum führen. »Fiktionale Anleihen«, schreibt er, »können im Dokumentarfilm affektive Nähe und Empathie herstellen, zum Beispiel im Nachempfinden von Angst, Hoffnung, Spannung oder Erleichterung. Dabei dürfen die inszenierten Anteile nicht die Illusion herstellen, daß ›es so gewesen ist‹. Der Zuschauer muß Zeuge der Darstellung bleiben und behält dadurch den Zugang zur Reflexion des Geschehenen.« Kriegs Gegenbeispiele: »Doku-Dramen und Reenactments, die das Fernsehen überfluten und die politischen, kulturellen und sozialen Zusammenhänge auf banale zwischenmenschliche Interaktion und emotionale Identifikation reduzieren, in denen sich der Zuschauer, ohne viel nachdenken zu müssen, jederzeit wiederfindet und bestätigt fühlt«.
Die forcierte Inszenierung
Reenactments haben in der Dokumentarfilmszene einen schlechten Ruf, meist zurecht. Sie können, klug eingesetzt, das ästhetische Vokabular um ein wirkungsvolles Mittel erweitern und dem dramaturgischen Bau eine zusätzliche Ebene geben – sie können aber auch furchtbar platt sein, totalitär, ja geradezu pornographisch.
Errol Morris ist so ein Fall. Der Amerikaner ist der Großwesir des internationalen Dokumentarfilms und operiert mit millionenschweren Budgets. Die müssen irgendwie wieder eingespielt werden, und dafür ist dem 62jährigen jedes Mittel recht. Auch das der forcierten Inszenierung bis hin zum Reenactment. Sein bislang letzter Film,
Standard Operating Procedure (2008), lief vor zwei Jahren bei der Berlinale als erste Dokumentarfilmproduktion überhaupt im offiziellen Wettbewerb. Nicht ohne Grund.
Der Film untersucht die Hintergründe der Bilder aus dem US-Gefängnis Abu Ghraib nahe Bagdad, die 2004 um die Welt gingen und große Empörung auslösten. Sie zeigten Häftlinge nackt zu Menschenpyramiden getürmt oder an einer Leine über den Boden geschleift. Die Täter, meist einfache Gefreite, posierten daneben in kolonialistischer Manier, als hätten sie gerade einen Tiger erlegt. Eine humanistische Katastrophe. Morris macht aus ihr eine dröhnende Horror-Oper mit suggestiven Soundpartituren, Slow Motion-Interventionen und Bildmanipulationen, die keinen Raum zum Analysieren und Nachdenken und Selber-Fühlen lassen.
Um die Attacke auf den Zuschauer noch wirkungsvoller zu inszenieren, stellt er Szenen nach, die sich so in dem Foltercamp abgespielt haben sollen. Sie zeigen das, was nur die Täter sehen konnten. Eine der perfidesten Sequenzen führt den Versuch der Wärter vor, den Leichnam eines Häftlings, der bei einem der Verhöre gestorben ist, verschwinden zu lassen. Der namenlose Iraker stirbt seinen zweiten Tod, einen Filmtod. Gierig fährt die Kamera am raffiniert geschminkten Körper seines fiktiven Wiedergängers entlang. Was die Folterer vielleicht noch nicht einmal mit der physischen Vernichtung geschafft haben, setzt der Film endgültig ins Werk: den Raub eines Restes von Würde.
Was die Verfechter des Reenactments als die größte Chance dieses Verfahrens sehen, ist auch seine größte Gefahr: das Unsichtbare sichtbar zu machen. Häufig werden ihm Bilder abgerungen, die über die reine Plakatierung nicht hinausgehen. Wie großflächige Transparente sind sie über die Leerstellen gespannt und decken sie zu. Sie behaupten Objektivität und das »So ist es gewesen« und blockieren die weitere Reflexion. Die Wahrheitssuche wird für abgeschlossen erklärt und findet nicht mehr statt – weder im Korpus des Films noch in den Köpfen der Zuschauer. »Wahrheit heißt«, sagte Lars von Trier einmal in einem Interview, »ein Gebiet zu durchsuchen, um etwas zu finden. Wenn man jedoch schon im Vorfeld weiß, wonach man sucht, ist das Manipulation. Vielleicht bedeutet Wahrheit, etwas zu finden, wonach man nicht sucht«. Das ist ein hehrer Anspruch. Die mächtige Kino- und Fernsehindustrie teilt ihn nur wenig bis gar nicht. Sie will die klare Wahrheit, auch um den Preis der Vereinfachung und Banalisierung, Antworten statt Fragen.
Unterhaltung vs. Ambition
Dazu gibt es eine schöne Episode aus der deutschen Fernsehgeschichte, ihr Anfangskapitel sozusagen. Als das Fernsehen des NWDR in den frühen 1950er Jahren in den Hamburger Flaktürmen am Heiligengeistfeld mit seinen Versuchssendungen begann, startete es seine Fernsehspiel-Produktion 1951 mit der Ausstrahlung von Johann Wolfgang von Goethes »Vorspiel auf dem Theater«. Darin liefern sich ein Theaterdirektor und ein Dichter einen Schlagabtausch über den Grundkonflikt der Kunst: Unterhaltung vs. Ambition. Der Theaterdirektor zum Dichter: »Besonders aber laßt genug geschehen! / Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn. / Wird vieles vor den Augen abgesponnen, / So daß die Menge staunend gaffen kann, / Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen.« Der Dichter entgegnet: »Ihr fühlet nicht, wie schlecht ein solches Handwerk sei! / Wie wenig das dem echten Künstler zieme! / Der sauberen Herren Pfuscherei / ist, merk ich, schon bei Euch Maxime«. An diesem Gegensatz hat sich bis heute nichts geändert.
Der kreative Umgang mit den formalen Möglichkeiten des Films, auch mit der Technik des Reeanactments, findet wie so oft in den Nischen statt, in unabhängigen Produktionen, auf Festivals oder den Kultursendern. Dort ist die österreichische Filmemacherin Anja Salomonowitz zu Hause. Ihr Film
Kurz davor ist es passiert (2006) eröffnet über die dokumentarische Inszenierung ein weites Panorama unterschiedlicher Perspektiven. Er beschäftigt sich in fünf Episoden mit dem globalen Phänomen des »Traffickings«, des Handels mit Frauen und ihrer sexuellen Ausbeutung. Die Episoden basieren auf realen Erzählungen von betroffenen Frauen, die im Film selbst aber nicht auftauchen. Die Geschichten werden nacherzählt, jedoch nicht von Schauspielern oder Schauspielerinnen, sondern von Personen, die mit den Ereignissen und Orten des Films in einer Beziehung stehen könnten: einem Zöllner, einer Dorfbewohnerin, einem Kellner in einem Bordell, einer Diplomatin und einem Taxifahrer.
Konstruktion vs. Dokumentation
Die Logiken des Spiel- wie des Dokumentarfilms werden außer Kraft gesetzt. Das, was geschehen könnte, und das, was geschehen ist, das Konstruierte und das Dokumentierte konterkarieren sich gegenseitig und bieten dem Zuschauer keinerlei Identifikationsflächen. Er muß selber aktiv werden und sich seinen eigenen Film zusammenbauen. Doch auch für die Protagonisten bedeutet das Verfahren eine Anstrengung. Indem sie an ihren Lebensorten gefilmt werden und die Erzählungen der ihnen fremden Frauen rezitieren, sickert das Thema Frauenhandel wie ein langsam wirkendes Gift in ihren Alltag. Doch nicht nur der reale Raum, auch die Filmkulisse, die Leinwand und das Kino werden kontaminiert, was nichts weniger heißen soll als: Solche Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, wie sie in
Kurz davor ist es passiert problematisiert werden, gibt es überall. Man kann auf sie im Haus gegenüber stoßen oder in der Wohnung nebenan. Die Wirkungsmechanik des Films funktioniert wie eine Schlinge – je mehr man sich ihr entziehen will, um so enger zieht sie sich zu.
Selbstinszenierung des Selbst
Einen ähnlich radikalen Weg wählt Ulrich Seidl. Der Österreicher entwirft in seinen Filmen drastische Szenarien der Demütigung und Selbsterniedrigung, Sittenbilder der Gesellschaft voller Obsessionen und Abgründe. Mit
Hundstage legte er im Jahr 2000 seinen ersten Spielfilm vor, doch die Genrefrage ist bei Seidl relativ. Von Beginn an bewegte er sich zwischen einem Cinéma vérité und dem starken Hang zur Inszenierung. Seine Settings waren schon immer mehr Spielorte, an denen die Protagonisten unter seiner Anleitung agieren.
Models (1998), der Film vor
Hundstage, markierte trotzdem einen Wendepunkt in Seidls Œuvre. Denn erstmals zielte seine dokumentarische Methode direkt auf die Fiktion.
In
Models spielen Models Models. Sie heißen Vivian, Lisa und Tanja und tauschen ihren Alltag auf zweitklassigen Wiener Laufstegen gegen die Aufnahme am Drehort. Dort machen sie nichts anderes als sonst auch: Ein Casting folgt dem anderen, Fotoshootings, schneller Sex mit dem Fotographen, um die Karriere zu befördern, Clubbesuche, Fressattacken, anschließendes Erbrechen auf dem Klo. Ein unglamouröses Leben, das von der Sehnsucht nach Glamour getragen wird. Seidl weicht seinen Darstellerinnen nicht von der Seite und inszeniert ihre Selbstinszenierung. Sein größter Coup: Immer wieder treffen sich die Models vor einem Spiegel, um sich einerseits zu schminken, vor allem aber um sich auszutauschen und persönliche Dinge loszuwerden. Er ist die vertraute Instanz, ein Beichtstuhl, ihr einziger Verbündeter in einem gnadenlosen Geschäft. In Wirklichkeit ist der Spiegel die Kamera. Die Frauen schauen dem Zuschauer in die Augen und der Zuschauer den Frauen in die Seele. Es ist ein doppeltes Spiel in
Models. Reenactment im buchstäblichen und wahrscheinlich besten Sinne.
2010-04-14 23:43