Die vierte Dimension
Von Mark Stöhr
»Aus Mangel an Phantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müßte die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen«, schrieb Erwin Piscator einmal. Und weiter: »Es sind also stärkere Mittel nötig. Eines davon ist das Theater.« Das andere der Film, möchte man ergänzen. Piscator brachte beide auf seinen Bühnen zusammen.
Irgendwann um 1928 war es passiert: Erwin Piscator zog mit seiner Frau Hilde von der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg an den mondänen Kurfürstendamm, ließ sich seine Wohnung vom Bauhaus-Architekten Walter Gropius im Design der Neuen Sachlichkeit einrichten und das Ganze noch vom Monatsmagazin »Die Dame« ablichten. Ein genuiner Proletarier war Piscator nie, er war ein Kaufmannssohn mit distinguierten Umgangsformen, der durch persönliche Erfahrungen des 1. Weltkriegs, durch die russische Oktoberrevolution 1917 und die deutsche Novemberrevolution 1918 zur politischen Theaterarbeit kam. KPD-Mitglied zwar früh, doch immer in sicherer und oft streitbarer Distanz zu den doktrinären Verhärtungen des Parteiapparats. Insbesondere die offiziöse Kulturpolitik der deutschen Linken lehnte er ab, die vor ästhetischen Experimenten zurückschreckte und ihren Mitgliedern und Weggefährten einen eskapistischen, explizit unpolitischen Kunstbegriff verordneten. In einer Theaterkritik der »Roten Fahne« hörte sich das wie folgt an: »Was der Arbeiter heute braucht, ist eine starke Kunst, die den Geist löst, frei macht. Solche Kunst kann auch bürgerlichen Ursprungs sein, nur sei es Kunst.« Piscator setzte dem in einer frühen Phase seine Konzeption eines »proletarischen Theaters« entgegen: »Einfachheit im Ausdruck und Aufbau, klare eindeutige Wirkung auf das Empfinden des Arbeiterpublikums, Unterordnung jeder künstlerischen Absicht dem revolutionären Ziel, bewußte Betonung und Propagierung des Klassenkampfgedankens.« Der Konflikt trat klar zutage: Hier plante und machte einer eine Art Theater, das radikaler war, als es die Partei erlaubte. Ein Theater, das sich als tendenziöser und agitatorischer Partner der Straße begriff und nicht haltmachte vor den Begrenzungen der bürgerlichen Guckkastenbühne. Ab Mitte der 20er Jahre trat in Piscators Arbeit die entscheidende vierte Dimension hinzu, welche das theatralische Geschehen episierte und die Theaterästhetik revolutionierte: die Integration technischer Medien in die Bühnenarbeit. Und hier in vorderster Front jene des Films.
Natürlich ist die Verwendung von Film auf der Bühne keine originäre Erfindung Piscators und greift zurück auf die bühnentechnischen Innovationen des futuristischen und konstruktivistischen Experimentaltheaters. Doch sein Einsatz von Filmmaterial in den Jahren zwischen 1925 und 1929, der Zeit des fruchtbarsten »Piscator-Theaters«, geht weit über die Formen eines illustrativen Spektakels und einer bloßen dekorativen Dreingabe hinaus und weist ihm eine essentielle dramaturgische Funktion innerhalb des dramatischen Ganzen zu. In seinem Credo »Was ich will« von 1927 formulierte Piscator die Qualitäten des neuen Mediums für die Bühne als »lebende Kulisse«: »Die Begriffe Zeit und Raum sind im Film aufgehoben; analog dem Bühnenvorgang erstehen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Hintergründe und Entwicklungen; sie werden in jedem Umfang lebendig und beispielhaft dokumentiert.« Die Überführung des filmischen Montageprinzips auf die Bühne, additiv wie kontrapunktisch, Film im Theater als historisch-gesellschaftlicher Horizont, Wissen, Kommentar und Schock.
War es Erwin Piscator bei der Inszenierung des Stücks »Fahnen« von Alfons Paquet 1924 an der Berliner Volksbühne entgegen dem ursprünglichen Plan technisch noch nicht möglich, Filmdokumente einzusetzen, und mußte er stattdessen allein mit Projektionen von Standbildern vorliebnehmen, konnte er ein Jahr später bei der Revue »Trotz alledem« im Großen Schauspielhaus erstmals aus dem Vollen schöpfen – wenngleich beschränkt auf die Vorführung von Zwischenfilmen. Die Revue war eine Auftragsarbeit der KPD zur Eröffnung ihres X. Parteitags und zeigte charakteristische Szenen aus der Entstehungszeit der KPD in den Kriegsjahren. Das Filmmaterial stammte aus dem Reichsarchiv und bestand aus dokumentarischen Aufnahmen des 1. Weltkriegs: »Angriffe mit Flammenwerfern, zerfetzte Menschenhaufen, brennende Städte […] Auf die proletarischen Massen mußten diese Bilder aufrüttelnder wirken als hundert Referate.« (Piscator).
Doch so stark die Wirkung auf die Anwesenden auch sein mochte, so weit entfernt war Piscator noch von seiner politästhetischen Vision einer Verschmelzung von Bühne und Bild. Dieser kam er erst wieder einen Schritt näher mit der Inszenierung von Alfons Paquets »Sturmflut« an der Volksbühne im Februar 1926. Inhalt: Ein Revolutionsführer verkauft über einen alten Juden die eroberte Stadt St. Petersburg an England, um Geld zur Revolutionierung des gesamten Landes zu bekommen. Zum ersten Mal bestand die Möglichkeit, ganze Teile des verwendeten Filmmaterials eigens herstellen zu lassen, einige Personen erschienen sowohl auf der Bühne als auch auf der Leinwand. Damit war der Film vollends zum ebenbürtigen dramaturgischen Funktionsträger geworden. Der Theaterkritiker Herbert Ihering beschrieb präzise in einer Rezension des Abends die Funktions- und Wirkungsweise dieses Zusammenwirkens der beiden Kunstformen: »Funkmeldungen: Revolution in China – auf der Leinwand im Hintergrund chinesische Massenversammlung; Rede Lloyd Georges – Lloyd Georges spricht im Film. Das ist nicht billige Ergänzung, nicht Abschwächung der Phantasie. Die Phantasie wird in andere Richtung gerissen. Die Umschaltung vom Akustischen zum Optischen ist von ungeahnter Wirkung.«
Immer ehrgeiziger trieb Erwin Piscator in den Folgejahren bis zu seiner Emigration in die Sowjetunion 1931 die umfassende Technifizierung des Bühnenapparats voran mit immer komplexeren Projektionsaufbauten. Seine vielleicht ausgereifteste Inszenierungsleistung legte er Ende 1927 mit »Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie aufstand« an der ersten Piscator-Bühne vor, einer Saga der russischen Zarenfamilie. Die Bühne bestand aus einem riesigen Globus, auf den Filmbilder projiziert wurden, ferner stand als weitere Projektionsfläche ein Gazéschleier vor dem Bühnenbild zur Verfügung. Eine eigens engagierte Filmkolonne kämpfte sich im Vorfeld durch ca. 100.000 Meter geeignetes Filmmaterial, vor allem aus sowjetischen Beständen, da sich die Archivleiter deutscher Filmgesellschaften zunehmend unkooperativ zeigten. Den Beginn noch vor dem eigentlichen szenischen Geschehen machten zwei »Lehrfilme«, die einen genealogischen Abriß des Hauses Romanow gaben und die jahrhundertelange Vorgeschichte der Oktoberrevolution erzählten. Neben dem schon in früheren Inszenierungen praktizierten Einsatz von Filmsequenzen als Handlungsmotor und Szenenersatz erschien der Film nun erstmals in einer neuen Funktion: als technisches Pendant zum kommentierenden, alles wissenden Chor der griechischen Tragödie. Beispiel: Die Zarin bittet auf der Bühne den Geist des toten Rasputin um Rat – in einer Simultanszene auf der Leinwand marschieren schon die revolutionären Truppen; die Zarin plant für die Zeit nach dem Krieg – im Film wird sie zeitgleich erschossen. Der theatralische Raum wird zum epischen Totaltheater, die Bühne zur Welt.
2005-01-01 15:35