Von Mark Stöhr
Es regnet wieder im deutschen Film. Endlich. Im Regen wird die Welt klarer, weil die Dinge verschwimmen und wie durch einen Zerrspiegel noch deutlicher hervortreten. Im Regen wird der Kopf klarer, weil man nirgends so allein ist wie allein im Regen, wenn man sich mit den eigenen Händen ein Dach baut. Selten ist man so allein wie in diesem Film, in dem es dauernd regnet, draußen in der Welt und drinnen in den Menschen. Da gibt es nichts mehr zu lachen. Endlich. Ein Plädoyer für eine Ästhetik des Schmerzes.
Alles ist kaputt in dieser Welt. Der Vater ist ein Lügner, weil er ein uneheliches Kind verschweigt. Der Bruder ist ein Lügner, weil er seiner Freundin die Hochzeit mit einer anderen verschweigt. Die Freundin des Bruders belügt sich selbst, weil sie sich die Wahrheit verschweigt. Und die Mutter ist in der Klinik, weil sie nicht mehr schweigen konnte und über all der Lügerei verrückt geworden ist. Mittendrin Jesko, der erfolglose Modeschneider im Herrenrock: Er hat Leukämie und wird sterben, wenn er nicht das passende Knochenmark findet. Als vermeintlich letzte Spenderin kommt die Mutter in Betracht, und so versammelt sich die Familie noch einmal unter dem Dach der elterlichen Villa, auf die es ohne Unterlaß regnet und wo mit jedem Tropfen das Wasser steigt und mit ihm der Grad an Klarheit.
Das knarzt und kracht und tobt in diesem Film. Wenn die Mutter ein Gespräch der Brüder belauscht, durch das ihr wieder ins dämmernde Gedächtnis schießt, daß sie vor Jahrzehnten versuchte, Ansgar, den älteren der beiden, mit einer Axt zu töten; sie aus dem Haus stürzt, wie ein Racheengel ihrer selbst ein Maisfeld umpflügt und zu Tode erschöpft im Dreck liegen bleibt. Insekten erscheinen in Großaufnahme, die an den geschundenen Gliedern nagen, als hätten die Gespenster der Vergangenheit plötzlich Scherenhände und Schaufelmünder. Oder wenn sie, die Mutter, auf delirierender Schatzsuche den Garten verwüstet und mit bloßen Händen gleichsam ihre Erinnerungen exhumiert. Wann hat Margit Carstensen, die Mutter, zum letzten Mal ihr filmisches Alter ego so zielgenau gefunden? Das ist dermaßen böse und furios, daß man sich in einer antiken Tragödie wähnt. Mittendrin Jesko, der Zyniker an seiner schrammligen Nähmaschine, der die Familiengeschichte als tödliche Krankheit in seinem Körper trägt und Heilung vom Erreger erhofft. Nie war Jürgen Vogel trauriger in seiner Resignation, nackter in seinem Schmerz und berserkerhafter in seinem Zorn.
Chris Kraus, dessen Filmdebüt Scherbentanz auf seinen erst kürzlich erschienenen Romanerstling gleichen Namens zurückgeht, schreibt in einem Begleittext, er wollte eine Geschichte erzählen »voller Erinnerung und voller Eltern.« Und in der Tat ist ihm eine schwindelerregende Geisterbahnfahrt durch die Traumafabrik Familie gelungen. Die Raumstrukturen sind klaustrophobisch, die Lichtarchitekturen in schwefliges Ockerbraun getaucht. Die Kamera unterstützt die Entfremdungen und Entzweiungen zwischen den Familienmitgliedern, indem sie durch harte Schwenks Verbindungen kappt oder durch langsame Schärfeverlagerungen Gräben aufreißt. Selten wurde eine literarische Vorlage mit solch selbstverständlicher Freiheit ins Filmische übersetzt. Gegen Ende, wenn die Karten nach und nach auf dem Tisch liegen, blitzt sogar ein wenig Hoffnung auf. Keine Ahnung, was passiert, wenn der Regen irgendwann aufhört: Wahrscheinlich fängt es einfach wieder an zu regnen.
1970-01-01 01:00