Die Berührbare
Von Oliver Baumgarten
Anne ist die Neue auf der Wache. Umgeschult vom Postdienst auf den Polizeidienst. »Ich habe gerne mit Menschen zu tun«, sagt sie am Beginn und weiß nicht, wie absurd das für die Zuschauer klingt. Wie eine Strahlefrau inmitten routinierter Beamter und ruinierter Bürger bewegt sich Anne auf ihren ersten Streifen durch das Rostocker Revier. »Du mußt Dir unbedingt eine dickere Haut zulegen«, bekommt sie mehrfach von Kollege Mike zu hören, ein Elefant in Grün. Doch Anne kann nicht aus ihrer Haut, ist diese doch das Medium für Berührungen, für physische Kontakte, ein Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Nähe. Mikes Berührungen kann sie bekommen, doch nach einer unerfreulichen gemeinsamen Nacht lehnt sie ihn ab. Sie möchte den Dieb Ivan, doch der lehnt sie ab.
Annes dünne Haut ist es, über die ihre Beziehung zu den beiden Männern illustriert wird. Der gänzlich unsinnliche, dazu verheiratete Mike versteht es als seine Mannespflicht, Anne ins Bett zu bekommen. Ihre erste Berührung im Film spricht Bände: Er reibt Annes Hände mit Desinfektionsmittel ein. Während eines Treffens mit Ivan reißt sich Anne Schwielen in die Hände, Ivan streicht sanft darüber, die Szene endet mit Sex auf dem Küchentisch. Nur einmal legt sich Anne eher widerwillig eine dickere Haut zu – zögerlich quält sie sich vor einer Leibesvisitation in die engen Latexhandschuhe. Sie kann auf ihre Dünnhäutigkeit nicht verzichten, und als würde sie es der Welt zeigen wollen, dankt sie den zärtlichen Händen Ivans, indem sie sie am Ende aus den Fängen der Handschellen befreit.
Ein düsteres Bild, das Andreas Dresen über die trostlose Polizeiarbeit in einem finsteren Rostock entwirft. Ähnlich seinem Konzept in
Nachtgestalten herrscht auch hier ein bedingungsloser Realismus vor, verstärkt durch die fesselnde Handkamera Michael Hammons. Er, der unter anderem Mirjam Quintes und Pepe Danquarts
Nach Saison in pulsierende Hektik und inszenierte Schönheit teilte, verleiht der
Polizistin durch seine dokumentarische Erfahrung die Nähe zu einer bitteren Welt. Hin und wieder schweift die Kamera über Plattenbausiedlungen. In einem von Annes Glücksmomenten bleibt die Kamera während eines solchen Schwenks an einem Schwarm Vögel hängen.
Das Symbol von Freiheit sucht man in diesem Bild vergeblich. Bizarr geradezu gestaltet sich eine Szene während der nächtlichen Streife durch Rostock. Anne und Mike drehen einer Alkoholiker-Party den Strom ab und dringen in die Wohnung ein. Allein der Schein ihrer Taschenlampen erhellt den Raum punktuell: ein Abstieg in die Katakomben des maroden Sozialstaats, dort wo die Totgeschwiegenen auf ewig ihr trübes, subventioniertes Dasein fristen.
Es sind nicht derlei unbehagliche Momente, die Dresens intensiven Film beherrschen, keine voyeuristische Elendsabbildung, während derer Betrachtung man zur Beruhigung gerne seine Finger liebevoll ans Portemonnaie preßt. Jedes der Bilder steht in direktem Bezug zur Suche der Polizistin nach handhabbarem Kontakt, nach einem Mittel zwischen Offenheit und Abwehr, nach einem Weg, nicht alles, was sie berührt, zu berühren.
Andreas Dresen gelang es perfekt, nicht nur seine konsequente Inszenierung, sondern auch seine fabelhaften Darsteller Gabriela Maria Schmeide und Axel Prahl von jeglicher Künstlichkeit zu befreien. So entstand in der Fiktion eine Ästhetik des Realistischen, die sich nicht anmaßt, die vermeintliche eine Wahrheit zu propagieren, sondern in erster Linie die Wahrheit der Figuren. Ein restlos überzeugender Film.
1970-01-01 01:00